Das Teenage-Girl trägt ein helles Pailettenkleid, ist also völlig overdressed für den Abend vor dem Fernseher. Und nicht nur das wirkt suspekt. "Nathaniel!", ruft sie, als sie mit der Popcornschale auf die Couch kommt, "ich glaub's nicht, du hast den Film ohne mich angefangen!" Der Freund starrt auf den Bildschirm, wahrscheinlich läuft Netflix. Sie starrt auch.
Da raschelt es hinter dem Vorhang, und ein überdimensionaler Hummer rumpelt hervor, auf zwei Beinen. Schwingt die Zange, schert dem jugendlichen Liebhaber den Kopf ab. Blut spritzt wie aus einer Ölquelle. Monsterschock! Was wird das Mädchen tun?
Viele würden sicher gern mehr vom bösen Hummer und seinen Schandtaten sehen, und tatsächlich hat Netflix ihn jetzt ins Programm genommen. Aber nicht zu früh jubilieren, Krustentierfreunde: Er spielt in "Locke & Key", der neuen, zehnteiligen Fantasy-Horror-Serie, bloß eine kleine, wenn auch reizende Nebenrolle. Die Kopf-ab-Szene ist ein Film im Film, eingebettet in die Handlung, mit Kunstblut gedreht von der pausbäckigen Highschool-Kinogruppe.
Die eigentliche Geschichte beginnt mit der Ankunft der Familie Locke an ihrem neuen Wohnsitz – einem gleich auf den ersten Blick wahnsinnig geheimnisvollen Gutshaus im leeren, werwölfisch verschneiten New England. Anlass für den Umzug: Der Vater, ein Lehrer, wurde kurz zuvor von einem seiner Schüler erschossen, natürlich ist der Fall komplett rätselhaft. Für die drei Locke-Kinder bringt der Neubeginn die üblichen Erster-Schultag-Traumata, hämisch kommentiert vom Graffiti, das Tochter Kinsey an der Highschool-Mauer sieht: "Deine Einladung nach Hogwarts kommt nicht mehr!"
Der Sinn der Reise zeigt sich, als die Kinder im Haus versteckte Schlüssel finden und sammeln. Die Schlüssel verleihen übersinnliche Kräfte, enthüllen Teile der Familiengeschichte, rufen unterschiedliches, meistens sehr gut aussehendes Teufelspack herbei. In einer brillanten Szene bereitet sich Bode Locke, der leidgeprüfte Jüngste, mit Fahrradhelm und größter Vorsicht auf den Test eines unbekannten Schlüssels vor. Schließt den Schrank auf, schaut hinein: "Vielleicht ist das ja eine Narnia-Situation." Was dann passiert, muss man selbst sehen, aber die "Locke & Key"-Kinder kennen sich definitiv mit Popkultur aus, haben ihre Filme geguckt, ihre Bücher gelesen.
Es dauert unsagbar lange, bis "Locke & Key" ein klein bisschen spannend wird
Dass die Serie als popkulturelles Großereignis gilt, hat mit der Vorlage zu tun. Joe Hill, der älteste Sohn von Stephen King und selbst Schriftsteller mit Weltruhm, veröffentlichte 2008 mit dem Zeichner Gabriel Rodriguez das erste "Locke & Key"-Comicheft. Sechs Bände gibt es heute, ein düsteres Epos über das Haus, die Schlüssel, die Vor- und Nachgeschichten. Es klingt wie Balla-Balla-Kram für Rollenspieler, ist aber literarisch absolut belastbar.
Der Stoff hatte lange den Ruf, unverfilmbar zu sein. Ein 2011 unter anderem von Steven Spielberg für Fox produzierter TV-Pilot verkümmerte ungesendet, geistert heute als Trailer-Zombie durchs Netz. 2017 ging ein zweiter Versuch beim Streamingdienst Hulu schief. Man kann sich denken, warum Netflix das schon stockfleckige Projekt aufgegriffen hat: "Stranger Things", "Spuk in Hill House" und "Dark" liefen super, "Locke & Key" passt perfekt ins Kinderbanden-Dunkelgeheimnis-Profil. Die Showrunner kommen von "Lost" und "Hill House", die Schauspieler sind eher unbekannt, bis auf Jackson Robert Scott aus, tja, Stephen Kings "Es".
Jedenfalls sind die Comic-Book-Guys nun erst mal ein paar Wochen beschäftigt, um alle Abweichungen zwischen Original und Serie zu finden. Dabei merkt man auch als unbelasteter Zuschauer schnell, wo das Problem liegt. Das Dilemma, das "Locke & Key", bei aller Cleverness und dem tollen Traumwelten-Design dann doch zum mittelmäßigen Erlebnis macht. Könnte am Stoff liegen – oder daran, dass Netflix ihn unbedingt in eine Frei-ab-12-Serie verwandeln musste. Die zitierte Slapstick-Szene mit dem fliegenden Kopf bleibt mit Abstand die blutigste.
Und so dauert es unsagbar lange, bis "Locke & Key" auch nur ein klein bisschen spannend wird. Davor gibt es vor allem Highschool-Drama, Bösewichter, die ständig erscheinen und ganz schrecklich mit irgendetwas drohen, und – anstelle der fantastischen Comicdialoge von Joe Hill – krude Psychologie, die höchstens Resilienzbeauftragte deutscher Kreisstädte begeistern dürfte. Selbst die Schlüsselsuche im Spukhaus wird, mit großen Kinderaugen und typischer Neugier-Musik, eher im Stil von Edeka-Weihnachtsspots inszeniert. Mit Horror-Hummern oder Ähnlichem rechnet man hier kaum, eher damit, dass ein Robin-Williams-Wiedergänger im lustigen Kostüm aus dem Schrank springt.
spiegel
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