Am Tisch von Boris Johnsons Ministerkabinett sitzt ein Mann mit einem etwas seltsam anmutenden Titel: Kanzler des Herzogtums Lancaster heißt sein Amt. Bekleidet wird es von Michael Gove, einem entschiedenen Brexit-Verfechter. Er soll unter anderem die britische Wirtschaft darauf vorbereiten, was ihr im Zuge des Ausscheidens aus dem EU-Binnenmarkt blühen könnte, so lässt sich ein Teil des Aufgabenbereichs Goves grob umreißen.
Gove spricht oft über die Belange der britischen Fischerei. Er kann mitreißend begründen, warum die Brexit-Hoffnungen in der Branche besonders groß und die Wut auf die EU besonders heftig waren: Gove ist aufgewachsen in der schottischen Küstenstadt Aberdeen, in einer Unternehmerfamilie. Sein Vater hatte dort einen Betrieb zur Fischverarbeitung geerbt - doch die Firma sei pleitegegangen wegen der gemeinsamen EU-Fischereipolitik, "that business went to the wall", hat Gove erzählt.
Die Fischerei hat für das Brexit-Lager ähnliche Bedeutung wie die Kohleindustrie für Donald Trump in den USA: Sie gilt als Symbol, wie unlautere Konkurrenz aus dem Ausland die einheimische Wirtschaft angeblich über's Ohr haut. In Küstenstädten wie Grimsby - früher mal Ankerpunkt der größten Fischereiflotte der Welt - stimmten teils mehr als 70 Prozent für den Austritt aus der EU.
Viele Briten nehmen Anstoß an der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) der EU. Sie regelt seit den Siebzigerjahren die Fangmengen, die Flotten der Mitgliedstaaten fangen dürfen - und eben auch den Zugang von Fischtrawlern anderer EU-Länder zur 200-Meilen-Zone längs der britischen Küste.
Deadline ist der 1. Juli 2020
Ohne EU-Schiffe bliebe viel mehr Fisch für Boote aus britischen Häfen, so lautet die Rechnung vieler Fischer und Brexiteers, weil die Nutzung der "Ausschließlichen Wirtschaftszone" dann allein Großbritannien zustehe. Das werde eine Renaissance der Fischerei einleiten. "Wir werden ein unabhängiger Küstenstaat sein", so hat Michael Gove es formuliert. "Wir werden die Gewässer innerhalb der 200-Meilen-Zone kontrollieren."
Trotz des formalen EU-Austritts zum 31. Januar ist das nämlich noch nicht der Fall. Bis Ende 2020 bleibt das Land noch Teil des EU-Binnenmarkts, erst danach gelten auch die Regeln der Gemeinsamen Fischereipolitik nicht mehr. Ein Grund dafür ist laut dem "Guardian", dass Boris Johnson während der Brexit-Hängepartie zwar stets die damalige Premierministerin Theresa May dafür kritisiert hatte, nichts von dem zu halten, was Fischern und Bürgern im Zuge des Brexits versprochen worden sei. Als Regierungschef habe er für sein eigenes Abkommen dann aber einfach die entsprechenden Passagen aus Mays Text übernommen, per Copy-and-paste, wie die Zeitung schreibt.
Die Fronten zwischen EU und Vereinigtem Königreich sind verhärtet. Beide Seiten haben eigentlich angekündigt, dass die Fischerei den Anfang machen soll bei den Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen Kontinent und Vereinigtem Königreich. Bereits zum 1. Juli 2020 soll eine Einigung stehen, in allen anderen Handelsfragen ist bis Ende des Jahres Zeit.
Falls in den Schubladen der Unterhändler doch schon Konzepte für einen Kompromiss liegen sollten, so halten sie diese bislang jedenfalls gut unter Verschluss. Medienberichten zufolge will auch die EU in der Fischerei-Frage eine harte Verhandlungsposition einnehmen, zum Schutz von Dörfern und Städten in strukturschwachen Gebieten an der Nordseeküste. Frankreichs Präsident Emanuel Macron hat bereits angekündigt, ohne freien Zugang zu britischen Gewässern werde es auch keinerlei Handelsabkommen mit Großbritannien geben. Gemeint ist ein Vertrag, der die zukünftigen Handelsbeziehungen insgesamt zwischen beiden Handelsräumen ab 2021 regeln soll.
Das wiederum schürt Ängste unter britischen Fischern, ihre Branche könnte - allen Brexiteer-Versprechen zum Trotz - in den Verhandlungen geopfert werden. Wenn EU-Schiffe weiter Zugang zu den reichen britischen Fischgründen bekämen, könnte die Union im Gegenzug etwa den Marktzugang für britische Finanzdienstleister und Banken erleichtern.
Begründungen für die Sorgen der Fischer finden sich schon bei einem Blick auf britische Wirtschaftsstatistiken: Während Fang und Verarbeitung von Fischen gerade einmal etwas mehr als 0,1 Prozent der Wirtschaftsleistung Großbritanniens ausmachen, entfallen auf Finanzdienstleistungen etwa sieben Prozent. Auch die mit EU-Zulieferern verflochtene Autoindustrie kommt auf vier Prozent.
Wohin mit dem ganzen Fisch?
Mit Blick auf die Frage der Fischgründe wirkt die Verhandlungsposition der Briten zunächst stark. Die Gewässer um die britischen Inseln zählen zu den reichsten Fischgründen der Welt. Laut einem Bericht der BBC entfällt gerade einmal ein Drittel des in britischen Gewässern gefangenen Fischs auch auf Schiffe aus Großbritannien, 43 Prozent werden von EU-Fischern gefangen, 21 Prozent von Norwegern.
Das Problem: Der Fisch muss nicht nur gefangen, sondern auch verkauft werden. Bislang ist der Handel zwischen den EU-Ländern eng miteinander verschränkt. Großbritannien ist angewiesen auf Fischimporte aus anderen EU-Staaten. Umgekehrt werden erhebliche Teile des britischen Fangs wiederum auf dem Kontinent verkauft.
Allein der Umsatz britischer Muschel-Exporteure im Handel mit EU-Staaten beläuft sich auf mehr als 400 Millionen Pfund pro Jahr. Französische Fischer haben im vergangenen Jahr bereits durchblicken lassen, im Falle einer harten Auseinandersetzung um Fangrechte, britische Lieferungen in französischen Häfen zu blockieren.
Ein Kompromiss in der Fischerei-Frage könnte zumindest dem Brexit-Hardliner Michael Gove womöglich doch leichter fallen, als es angesichts seiner dramatischen Erzählungen seiner Familiengeschichte den Anschein macht. Vater Ernest Gove erinnert sich nämlich etwas anders an das Ende der Fischfabrik: Die EU sei daran jedenfalls nicht Schuld gewesen. "Es gab keine Not oder solche Sachen. Ich habe einfach entschieden, Feierabend zu machen und habe mein Geschäft verkauft."
spiegel
Tags: