Willie O'Ree klingt verzweifelt. "Ich bin 84 Jahre alt und hätte nicht gedacht, dass ich so etwas noch sehen würde", sagt der Kanadier, als er über den qualvollen Tod von George Floyd spricht. Wie Floyd ist O'Ree ebenfalls schwarz. Und er ist einer mit einer besonderen Geschichte. Am 18. Januar 1958 spielte Willie Eldon O'Ree erstmals in der nordamerikanischen Eishockey-Liga NHL. Mit den Boston Bruins gewann er bei den Montreal Canadiens 3:0. Viel wichtiger als der Sieg war jedoch die Tatsache, dass mit dem damals 22-jährigen Stürmer ein Schwarzer in der NHL debütierte.
Während die National Football League (NFL), die Basketball-Liga NBA und auch die Major League Baseball (MLB) damals schon lange Schwarze in ihren Teams hatten, war O'Ree eine absolute Ausnahme. Denn in jener Zeit kamen 95 Prozent aller NHL-Spieler aus Kanada. Dort wiederum betrug der Anteil der Farbigen in der Bevölkerung nur 0,02 Prozent. Kein Wunder also, dass die NHL als "weiße Liga" galt. Doch 62 Jahre nach O'Rees Debüt hat sich daran nichts geändert.
In der NFL sind rund 70 Prozent der Spieler Afroamerikaner, in der NBA gar knapp 80 Prozent. Laut "USA Today" befanden sich in der MLB zu Beginn der Vorsaison unter den 882 Profis zwar nur 68 Afroamerikaner. Doch durch die vielen Latinos sind mehr als 40 Prozent der MLB-Spieler schwarz oder braun. In der NHL beträgt ihr Anteil nicht einmal fünf Prozent. Und das hat natürlich auch Einfluss auf die Liga-Kultur.
"Geh zurück auf die Baumwollfelder"
In der Vergangenheit haben sich NHL-Spieler fast nie zu politischen oder sozialen Problemen geäußert. Sie schwiegen und spielten einfach weiter. Rassismus? Den gab es doch nur in den anderen Ligen. Und dort erhoben schwarze Spieler mitunter lautstark ihre Stimme. In Wahrheit wurden jedoch auch die wenigen Afro-Kanadier oder Afroamerikaner der NHL verunglimpft. Das fing schon vor mehr als 60 Jahren bei Willie O'Ree an, als der sich von Fans anhören musste, er solle "zurück auf die Baumwollfelder gehen." Doch der Kanadier reagierte schlagfertig: "Wo ich herkomme, ist es viel zu kalt für Baumwollfelder."
Trotz gestiegener Aufmerksamkeit und sozialer Medien wurden Fälle von Rassismus in der NHL kaum öffentlich. Und wenn sich die Betroffenen wehrten, hörte ihnen selten jemand zu. "Ich garantiere Ihnen, dass jeder schwarze Eishockeyspieler in seiner Karriere rassistisch beleidigt wurde. Aber das ist eine Sache, über die die Leute nicht reden wollen, weil es ihnen unangenehm ist", betonte Wayne Simmonds (New Jersey Devils/mittlerweile Buffalo Sabres) vor einem knappen halben Jahr. Da war die Personalie Akim Aliu bekannt geworden.
Nicht länger schweigend zusehen
Doch nun wollen die NHL-Profis nicht länger schweigend zusehen. Die grauenvollen Bilder von George Floyds Tod haben auch sie erschüttert, nachdenklich gemacht. Und endlich werden sie laut. "Dies ist nicht die Zeit, irgendetwas schönzureden, sondern Zeit, dass wir in den Spiegel schauen", meinte Washington-Capitals-Torwart Braden Holtby. "Rassismus existiert in unserer Gesellschaft und auch im Eishockey. Das ist Fakt. Ich denke, viele von uns sind schuldig, weil wir weggeschaut haben, wenn es um Rassismus ging. Das kann so nicht weitergehen", twitterte Logan Couture.
Der Kapitän der San Jose Sharks unterstützte mit seinen Worten Mitspieler Evander Kane. Der ist einer von aktuell 43 schwarzen NHL-Profis und hatte nach dem Floyd-Fall betont, es sei an der Zeit, dass nicht nur schwarze Sportler ihre Stimme erheben, sondern endlich auch weiße. "Leute wie Tom Brady oder Sidney Crosby", forderte Kane, "müssten sich dafür einsetzen, was richtig ist und was falsch." NFL-Star Brady hat bislang geschwiegen.
Aber Crosby, Kapitän der Pittsburgh Penguins und eines der prägendsten NHL-Gesichter, meldete sich in dieser Woche. "Während ich die Diskriminierungen, die Schwarze und andere Minderheiten täglich erleben, nicht nachvollziehen kann, werde ich zuhören, und mich weiterbilden, wie ich dabei helfen kann, etwas zu verändern", kündigte er an.
Worte, Protestmärsche, Geldspende
Connor McDavid von den Edmonton Oilers hob hervor, dass es "an der Zeit" sei, "die Komfortzone zu verlassen und nicht untätig zuzuschauen, sondern Teil der Lösung zu sein, Rassismus in unserer Gesellschaft zu beenden." Ähnliche Worte waren von Superstars wie Jonathan Toews (Chicago Blackhawks), Alexander Owetschkin (Washington Capitals) oder Steven Stamkos (Tampa Bay Lightning) zu vernehmen. Andere Profis wie Tyler Seguin (Dallas Stars) oder Bostons 2,06 Meter großer Kapitän Zdeno Chara waren bei Protestmärschen in ihren Städten dabei. Und der aktuell wohl bekannteste schwarze NHL-Spieler, P.K. Subban von den New Jersey Devils, spendete 50.000 Dollar an den Fonds für George Floyds sechs Jahre alte Tochter Gianna. Als die NHL davon erfuhr, packte sie die gleiche Summe obendrauf.
"Wir müssen genauso involviert sein wie schwarze Spieler. Das kann nicht nur deren Kampf sein", machte Blake Wheeler deutlich. Der US-Amerikaner ist Kapitän der Winnipeg Jets und in einem Vorort von Minneapolis aufgewachsen. Die Bilder aus seiner Heimatstadt vom leidenden George Floyd hatten Wheeler sehr bewegt und selbstkritisch werden lassen. "Ich wünschte, es hätte nicht so lange gedauert, bis ich mich für diese bedeutsame Sache engagiere", sagt der 33-Jährige.
Patrice Bergeron, Leistungsträger der Boston Bruins, meinte, dass Eishockeyspieler dazu neigen würden, ihrem "Job nachzugehen und nicht allzu großen Lärm zu machen." Durch den Mord an Floyd sowie die anschließenden Proteste sei ihm jedoch klar geworden, so Bergeron, dass er "eine Fortsetzung des Rassismus zulassen würde, wenn ich als Sportprofi nicht meine Stimme zu diesem Thema erhebe."
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Es scheint sich also etwas zu bewegen bei den Kufencracks. Und es gibt viel zu tun. Willie O'Ree, der schwarze NHL-Pionier, hört nahezu täglich von rassistischen Vorfällen. Er ist seit mehr als zwei Jahrzehnten NHL-Botschafter für Vielfalt und zudem als Direktor in die Nachwuchs-Kampagne "Hockey is for everyone" involviert.
"Ich habe Rassismus auf dem Eis, auf der Bank, in der Kabine erlebt und den Jungs und Mädchen, mit denen ich durch unsere Kampagne in Kontakt komme, ergeht es heute nicht anders", sagt O'Ree. Er freut sich über die Selbstreflexionen vieler Spieler, das Engagement, die Bereitschaft, lernen und laut werden zu wollen. Aber O'Ree ist eben auch Realist und weiß: "Rassismus hört nicht über Nacht auf."
Quelle: ntv.de
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