Virusbekämpfung mit Augenmaß

  16 Juni 2020    Gelesen: 1061
Virusbekämpfung mit Augenmaß

Peking ist nach der Entdeckung zahlreicher Coronavirus-Neuinfektionen wieder im „Kriegsmodus“. Aber erstmals gibt es auch mahnende Stimmen. Setzt sich auch in China die Idee des Abflachens der Kurve durch?

Die chinesische Hauptstadt ringt um den richtigen Umgang mit dem jüngsten Coronavirus-Ausbruch in einem Großmarkt im Süden Pekings. Einerseits wurden abermals Einschränkungen für das öffentliche Leben in der ganzen Stadt verkündet. Andererseits gab es erstmals Stimmen, die ein Vorgehen mit mehr Augenmaß anmahnten. „Unser Kampf gegen Covid-19 sollte präziser sein. Wir sollten nicht zulassen, dass die neuen lokalen Seuchenschutzmaßnahmen zu einer großflächigen oder gar nationalen Panik führen“, kommentierte die Parteizeitung „Global Times“.

Das könnte darauf hindeuten, dass sich im Parteiapparat die Erkenntnis durchsetzt, dass sich der chinesische Ansatz der vollständigen Auslöschung des Virus anstelle einer Abflachung der Kurve nicht durchhalten lässt und womöglich zu hohe wirtschaftliche Schäden verursacht. Die „Global Times“ schrieb dazu: „Solange noch immer viele Länder von der Epidemie betroffen sind, ist es unmöglich für China, das Virus vollständig auszurotten.“ Die Zeitung sprach sich dafür aus, trotz des Ausbruchs das Sonderarrangement der drei für Juli geplanten Charterflüge aus Deutschland aufrechtzuerhalten, in denen Mitarbeiter deutscher Unternehmen und Institutionen trotz eines generellen Einreiseverbots für Ausländer einreisen sollen dürfen.

System gibt Anreize, Virusausbrüche zu verschweigen

Diskutiert wurde im chinesischen Internet auch über die Frage, ob es sinnvoll sei, dass der stellvertretende Distriktchef, ein lokaler Parteifunktionär und der Geschäftsführer des betroffenen Xinfadi-Großmarktes umgehend wegen Vernachlässigung ihrer Dienstpflichten entlassen wurden. Zahlreiche Internetnutzer argumentierten, dass solche Strafmaßnahmen Anreize schaffen, einen Virusausbruch im eigenen Zuständigkeitsbereich zu verschleiern.

Die Behörden in Peking meldeten am Montag 36 neue Krankheitsfälle und sechs Infizierte ohne Symptome. Die Gesamtzahl der Fälle im Zusammenhang mit dem Großmarkt stieg damit auf 79. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Sun Chunlan nannte das Risiko einer weiteren Ausbreitung „sehr hoch“. Sun hatte zuvor schon die Seuchenschutzmaßnahmen in Wuhan geleitet.

Der Xinfadi-Markt ist ein riesiges Gelände mit Dutzenden Hallen, in denen rund 80 Prozent der Agrarprodukte gehandelt werden, die in Peking verkauft werden. Wegen der Schließung kam es am Wochenende zu einzelnen Lieferengpässen. Das Gelände wurde von der Polizei abgeriegelt. Alle hundert Meter sind Sicherheitskräfte postiert. Auch Einheiten der bewaffneten Polizei, die der Armee unterstellt ist, sind beteiligt. Um die weitere Ausbreitung des Virus schnell einzudämmen, ordneten die Behörden Massentests für Besucher und Händler des Marktes sowie Bewohner der umliegenden Hochhäuser an. Insgesamt wurden am Sonntag nach offiziellen Angaben mehr als 76 000 Personen getestet. Die hohe Zahl führte zu Spekulationen, wonach die Betreiber der Bezahl-Apps Wechat-Pay und Ali-Pay Daten von Kunden an die Behörden weitergegeben haben könnten, die auf dem Xinfadi-Markt seit Ende Mai eingekauft haben. Beide Unternehmen wiesen dies zurück.

Liegt der Ursprung der Neuinfektionen in Europa?

Die Pekinger Behörden sprachen von einem „Kriegsmodus“, in dem sich die Stadt befinde. Gemeint ist damit, dass abermals Zehntausende Freiwillige von Nachbarschaftskomitees mobilisiert wurden, um an den Eingängen aller Wohnblocks den Einlass zu kontrollieren, Temperatur zu messen und Besucher abzuweisen. Viele Bewohner reagierten mit großer Vorsicht auf den neuen Ausbruch, etwa indem sie abermals zum Homeoffice zurückkehrten. Taxifahrer klagten über einen plötzlichen Einbruch des Geschäfts.

Ein Epidemiologe der Seuchenschutzbehörde sagte am Montag im Staatsfernsehen, dass die in dem Markt gefundenen Gensequenzen auf einen Ursprung des Virus aus Europa hindeuteten. Eine Möglichkeit sei, dass das Virus auf Tiefkühlfisch eingeschleppt und durch die niedrigen Temperaturen konserviert worden sei.


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