Das ist der traurigste Ort Jerusalems

  23 Februar 2016    Gelesen: 1033
Das ist der traurigste Ort Jerusalems
Nirgends in Israel finden seit Beginn der neuen Gewaltwelle mehr Attentate statt als am Jerusalemer Damaskustor. Der Nordeingang der Altstadt ist zum Synonym für Terror, Besatzung und Gewalt geworden.
Eins haben fast alle arabischen Händler in Jerusalems Altstadt gemeinsam: Diesen resignierten Blick, mit dem sie an den Eingängen ihrer leeren Geschäfte hocken und stumm auf die Pflastersteine starren, auf denen sich normalerweise Tausende Touristen, Pilger und Bewohner tummeln. Die Aussichts- und Hoffnungslosigkeit ballt sich an einem Ort, an dem das Ergebnis von sechs Monaten palästinensischen Dauerterrors und israelischer Besatzung besonders sichtbar wird: das Damaskustor vor Jerusalems Altstadt.

Seit vergangenem Oktober starben elf Menschen auf den Stufen, die zu einem der ältesten und größten Tore in der osmanischen Stadtmauer aus dem 16. Jahrhundert hinabführen, bei zwölf Attentaten oder Attentatsversuchen. Mitarbeiter der Stadtverwaltung schrubbten das Blut einer Polizistin und zehn Angreifern von den beigefarbenen Pflastersteinen. Neun Israelis wurden verletzt, sechs Terroristen verhaftet. Nirgendwo sonst im Land gab es auf so kleinem Raum so viele Attentate.

Es ist ein historischer Ort. Seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert steht hier eines der wichtigsten Tore der heiligen Stadt, am Startpunkt bedeutender Verbindungsstraßen in den Norden. Daher stammt der heutige hebräische Name "Schaar Schchem" – das Nablustor. Sein christlicher Name ist Damaskustor. Nach dem Sieg über jüdische Rebellen ließ der römische Kaiser Hadrian die Toranlagen im zweiten Jahrhundert erweitern. Diese Arbeit bildet bis heute das Fundament der späteren osmanischen Anlagen Suleimans des Prächtigen aus dem Jahr 1537.

Auf dem Vorplatz stand eine Siegessäule mit dem Abbild Kaiser Hadrians. Sie wurde zum Nullpunkt der Provinz Judäa, die Hadrian in Palästina umbenennen ließ, um jede Spur jüdischer Präsenz auszumerzen: Alle Entfernungen im Land wurden von dieser Säule aus gemessen. Dies ist der Ursprung beider arabischer Namen dieses Ortes: Bab al-Amud – das Tor der Säule – oder Bab al-Nasr – das Tor des Sieges.

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"Dieser Ort hat für uns Araber eine symbolische Bedeutung", erklärt ein muslimischer Rentner, der sich neben dem Tor auf eine Bank gesetzt hat und das Treiben beobachtet. Seinen Namen will er aus Angst vor den israelischen Behörden nicht nennen. "Er steht für die ganze Altstadt. Das ist das Tor, durch das die meisten arabischen Bewohner die Altstadt betreten, um zum Freitagsgebet zur Al-Aksa-Moschee zu gehen."

Ein ehemaliger israelischer Geheimdienstler hat eine Erklärung dafür, warum ausgerechnet hier der palästinensische Terror kulminiert. "Das Damaskustor liegt direkt neben der wichtigsten Bushaltestelle Ostjerusalems und neben einer wichtigen Einkaufsstraße", sagt Ami Metav. "Ich bin überzeugt, dass die meisten ihre Tat gar nicht hier verüben, sondern weiter in die jüdischen Viertel wollen. Aber hier stoßen sie erstmals auf Polizisten. Diese Begegnung hält sie auf und verhindert Schlimmeres."

Ein tragischer Zwischenfall scheint ihm Recht zu geben. Am 3. Februar starb eine 18 Jahre alte Rekrutin, als sie drei junge Männer aufforderte sich auszuweisen. Die zogen sofort Pistolen und erschossen sie bevor sie selbst niedergestreckt wurden. Zwei weitere Angreifer starben bei dem Versuch, israelische Polizisten zu erschießen.

Dieser Zwischenfall unterschied sich in dreierlei Hinsicht von bisherigen Attentaten: Zum Einsatz kam scharfe Munition und keine Messer, es war ein geplanter Angriff und keine spontane Aktion und drittens gehörte einer der Täter einem Sicherheitsdienst der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) an. Am Tag darauf versuchte ein 15 Jahre altes palästinensisches Mädchen, Polizisten zu erstechen. Sie wurde überwältigt und festgenommen. Und am vergangenen Freitag, nur wenige Tage später, stach wieder ein 20 Jahre alter Palästinenser auf Polizisten ein. Das ehrwürdige Tor wird inzwischen von den palästinensischen Bewohnern Ostjerusalems inzwischen Bab al-Tadchia – Tor der Opfer – oder Bab al-Schuhada – Tor der Märtyrer – genannt.

"Mein Sohn will sich an den Polizisten rächen"

Die Polizei begegnet der Gewaltwelle mit mehr Präsenz. Auf den Zinnen, auf denen einst muslimische Bogenschützen standen, sind jetzt israelische Scharfschützen postiert. Sie geben ihren Kollegen unten Deckung, die schwer bewaffnet zu dritt oder zu viert rund um die Uhr patrouillieren. Jeder Passant wird von den gestressten Beamten als potenzieller Attentäter angesehen. Sträucher und Bäume wurden gestutzt, um zu verhindern, dass Attentäter Bomben verstecken können.

Der Vorhof wurde mit Zäunen umgeben, nur wenige Zugänge offen gelassen. Wer hier durchgeht wird kritisch beäugt. Alle paar Minuten wird ein Passant angehalten, mit gespreizten Beinen an die Wand gestellt und auf Waffen durchsucht – egal ob Mann, Frau, oder Kind. Ein bekannter amerikanischer Journalist wurde für 40 Minuten festgehalten. Die Beamten seien informiert worden, dass der Korrespondent der "Washington Post" eine Demonstration inszenieren wolle, teilte der Polizeisprecher später mit. Man habe ihn dann aber gehen lassen – Fehlinformation.

Eine palästinensische Frau mit Kopftuch schaut mit Tränen in den Augen zu, wie israelische Beamte drei palästinensische Jugendliche durchsuchen. "Das Ganze macht mich so traurig", sagt Samar Jamjum, Mutter von drei Kindern aus dem Nordjerusalemer Stadtteil Schuafat. Sie fürchtet um ihre Kinder. Der älteste Sohn ist 15 Jahre alt und geht in der Altstadt zur Schule: "Er muss hier jeden Tag durch. Manchmal kommt er heim und ist so voller Hass, weil er sich eingeschüchtert und erniedrigt fühlt. Ich versuche, auf ihn einzureden. Aber manchmal schreit er, dass er sich an den Polizisten rächen will." Tag für Tag versuche sie ihm das auszureden. "Aber eines Tages könnte ich meinen Einfluss verlieren. Teenager sind doch solche Hitzköpfe."

"Schau es Dir an! Das erzeugt nur noch mehr Terror", meint der palästinensische Rentner und nickt Richtung einer jungen Frau, die nun von einer anderen Gruppe Polizisten kontrolliert wird. Palästinensische Hetzvideos zeigen immer wieder, wie junge Männer zur Waffe greifen, um die Ehre palästinensischer Frauen zu verteidigen. Doch wie sollen die Polizisten anders Attentate weiblicher Terroristen verhindern? "Und wie soll ein Bär anders reagieren, wenn er Jahrzehnte lang eingesperrt wird?", fragt der Rentner.

Die meisten niedergeschlagenen Geschäftsinhaber am Damaskustor winken ab, wenn man sie um ein Interview bittet – sie fürchten die Polizei. Nur einer ist bereit. "Unsere Umsätze sind um rund 70 Prozent gefallen, seit die Gewalt ausbrach", berichtet er. Niemand traue sich mehr hierher. Er wünscht sich zwar, dass "dieser ganze Wahnsinn endlich aufhört" und bekundet, dass er keine Poster der "Märtyrer" drucken oder aufhängen würde. Nicht jedoch weil er ihre Taten grundsätzlich ablehne, sondern aus Angst vor israelischen Repressalien.

Als vor mehreren Monaten in den Gassen wenige Meter entfernt ein israelisches Paar niedergestochen und zwei Juden ermordet wurden, boten die Geschäftsinhaber den Opfern keine Hilfe an. Sie schauten nur zu, und wünschten der verzweifelten Ehefrau, sie möge doch zur Hölle fahren. Über die letzten Attentate sagt der Händler: "Ich weiß nicht, ob das falsch ist." Der palästinensische Rentner erkennt zwar den Schaden, den die Palästinenser durch die wachsende Gewalt erleiden, bezeichnet die Attentate jedoch als "natürliche Reaktion auf die Besatzung".

Lediglich Butrus Sara, ein 65 Jahre alter Christ, der in der Altstadt aufwuchs, hält an einem klaren Weltbild fest: "Die Palästinenser sind schuld, sie wollen keinen Frieden", sagt der Mann über seine eigenen Volksgenossen. Er sonne sich hier jeden Tag auf der Bank und habe "noch nie Probleme mit den Soldaten gehabt. Wenn man nett zu ihnen ist, sind sie auch nett. Alle Angriffe gingen von Palästinensern aus. Aber diese Attacken sind dumm, denn sie werden uns nie helfen. Wann begreifen die endlich, dass wir die Schwächeren sind und uns mit den Israelis arrangieren müssen? Nur dann wird es hier Ruhe geben."

Quelle: welt.de

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