Wie der Mathematiker Helmut Sonnenschein verschwand

  15 Juli 2020    Gelesen: 584
Wie der Mathematiker Helmut Sonnenschein verschwand

Jahrzehntelang suchte ihn seine Familie. Nun erinnert die Initiative "Die Letzte Adresse" an den ermordeten Helmut Sonnenschein. Doch das Gedenken an Stalins Willkür-Opfer stößt in Deutschland mitunter auf Ablehnung.

Am 16. November 1950, einem Donnerstag, klingelte ein Mann am Haus des Mathematikers Dr. Helmut Sonnenschein. Er stellte sich als Mitarbeiter des Wohnungsamtes vor und kündigte Einquartierungen an. Die Familie in Naumburg an der Saale solle eines ihrer vier Zimmer abgeben. Helmut Sonnenschein wies darauf hin, dass bei ihnen schon sein Vater und die Stiefmutter seiner Frau lebten, zudem erwarte seine Gattin ihr drittes Kind. Der Mann forderte Sonnenschein auf, ihn zur Klärung des Sachverhalts aufs Rathaus zu begleiten. Zusammen stiegen sie in eine Limousine.

Es war das letzte Mal, dass Hildegard Sonnenschein ihren Mann sah, und der damals sechsjährige Henk seinen Vater. Darauf folgten Jahrzehnte quälender Fragen, immer wieder aufflammender Hoffnungen, verzweifelten Suchens und Bangens.

Im fast 2000 Kilometer entfernten Moskau rief der russische Journalist Sergej Parchomenko 63 Jahre später mit der Menschenrechtsorganisation Memorial ein Projekt ins Leben: "Die letzte Adresse" erinnert an Menschen, die zwischen 1918 und 1991 unter dem Sowjetregime verschwanden. Tafeln aus verzinktem Stahl markieren seither die letzte Wohnstätte von Ermordeten in Russland, ebenso in der Ukraine und Georgien.

70 Jahre nachdem Helmut Sonnenschein die Villa an der Kösener Straße 7 durch das Gartentor verlassen hatte, wird nun auch sie zur "Letzten Adresse". Eine langwierige, mühsame Recherche brachte der Familie die Erkenntnis, dass der lange Arm Moskaus bis nach Naumburg reichte - und dass Helmut Sonnenschein unverschuldet den Tod fand.

Mühsam ist heute allerdings auch die Überzeugungsarbeit, dass es in Deutschland im Jahre 2020 richtig ist, Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft öffentlich zu gedenken.

Späte Post aus Moskau
"Himmel und Hölle" habe seine Mutter in Bewegung gesetzt, erzählt Helmut, der jüngere Sohn gleichen Namens. Nachbarn habe sie gefragt und sei schließlich zur Polizei gegangen. "Die wussten von nichts - es hat ja nie irgendjemand irgendwas gewusst."

Helmut, der Sohn, wurde drei Monate nach dem Verschwinden des Vaters geboren. Doch durch die jahrelange Suche sind ihm die Berichte aus seiner Familie so vertraut, als wäre er dabei gewesen. Die Mutter habe keine Ruhe gegeben - "bis man ihr sagte, wenn sie weitermache, verschwinde sie auch".

Hildegard Sonnenschein, Jahrgang 1910, machte weiter, erhielt jedoch auf Vermisstenanzeigen, Anfragen und Gesuche bei Behörden keine Antwort, die ihr weiterhalf. "Immer hat sie gehofft, dass er doch noch wiederkommt", sagt Helmut. Erst Anfang der Achtzigerjahre habe er sie mal sagen hören, "nun wird's wohl nichts mehr". Dennoch nahm die Familie mit der politischen Wende unter Gorbatschow und dem Ende der DDR die Nachforschungen wieder auf.

Im April 1990 gestand die Botschaft der UdSSR in einem offiziellen Schreiben ein, dass Helmut Sonnenschein am 26. April 1951 von einem sowjetischen Militärgericht zum Tod durch Erschießen verurteilt worden war, wegen angeblicher "Spionage für den britischen und amerikanischen Geheimdienst" nach Artikel 58 des Strafgesetzbuches der Russischen Sowjetrepublik (RSFSR).

Vier weitere Jahre verstrichen, bis der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation die vollständige Rehabilitierung erklärte. Die Anschuldigungen seien haltlos gewesen. Sie hatten zu Helmut Sonnenscheins Hinrichtung am 4. Juli 1951 im Moskauer Gefängnis Butyrka geführt.

Wer war Helmut Sonnenschein?
Sonnenschein ist kein Einzelfall. Unter dem Titel "Erschossen in Moskau..." erschien 2005 ein Buch über das Schicksal von nahezu 1000 Deutschen, die zwischen 1950 und 1953 heimlich verhaftet, von sowjetischen Militärtribunalen wegen angeblicher Spionage und antisowjetischer Agitation verurteilt und schließlich hingerichtet wurden. Das Buch gab den Anstoß, das Projekt "Die Letzte Adresse" - inspiriert von der Initiative "Stolpersteine" für Opfer des Nationalsozialismus - auf Deutschland auszuweiten.

Gewürdigt werden, so sieht es die Stiftung vor, ausschließlich Menschen, die sich selbst keiner Straftat schuldig gemacht hatten - weder in der kommunistischen Diktatur noch im Nationalsozialismus. Alle Fälle würden daher anhand von Informationen des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB und deutscher Archive gründlich durchleuchtet.

Die Prüfung erfordert eine umfangreiche Rekonstruktion des jeweiligen Lebens und wirft die Grundsatzfrage auf: Wessen darf man gedenken?

Helmut Sonnenschein, Jahrgang 1906, arbeitete ab 1931 als Assistent am Mathematischen Institut der Universität Leipzig. Nachdem ihm eine akademische Laufbahn verwehrt wurde, nahm er 1936 die Stellung eines Regierungsbaurats beim Heereswaffenamt an und wurde 1938 Mitglied der NSDAP. Als Mathematiker war er an Konstruktionen und Versuchen im Rahmen geheimer Waffenprojekte beteiligt, diente im Krieg drei Jahre als Batteriekommandeur an der Front und übernahm 1944 in Pommern eine technische Einheit zur Erprobung der "Wunderwaffe" V2.

Nach Kriegsende fand er eine Anstellung als Abteilungsleiter eines wissenschaftlich-technischen Büros des sowjetischen Luftfahrtministeriums in Berlin-Karlshorst. Deutsche Spezialisten setzten dort unter Anleitung sowjetischer Offiziere Entwicklungen aus deutschen Rüstungsfirmen fort. Nach Auflösung des Büros arbeitete Sonnenschein zuletzt ab Ende 1948 als Ingenieur in der Filmfabrik Wolfen, die den Mitarbeiter so sehr schätzte, dass sie sein Gehalt noch drei Monate nach seinem Verschwinden weiterzahlte.

Weder sein Dienst in der Wehrmacht noch seine Mitarbeit an der Waffenentwicklung waren Anlass für eine Strafverfolgung. Zum Verhängnis wurde Helmut Sonnenschein ein Brief eines ehemaligen Kollegen und Freundes aus dem Büro des sowjetischen Luftfahrtministeriums: Maximilian von Hamm beschuldigte Sonnenschein, mit westlichen Geheimdiensten in Verbindung zu stehen und ihn als Spion angeworben zu haben. Als Hamm dies schrieb, war er bereits selbst in die Fänge Moskaus geraten und saß in Haft.

Artikel 58, das Todesurteil
In einem von seinen Peinigern verfassten Verhörprotokoll erklärt sich Helmut Sonnenschein angeblich der "Ausübung von Verbrechen" gemäß Artikel 58 des Strafkodex der RSFSR für schuldig. "Ich gebe zu, daß ich (…) ein überzeugter Feind der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik geblieben bin. Aus diesen Gründen konnte ich mich mit der Niederlage des faschistischen Deutschlands nicht abfinden, habe ich Pläne für einen neuen Krieg gegen die UdSSR ersonnen und hatte vor, (…) erneut zur Waffe zu greifen." Das reichte den Sowjets für ein Todesurteil.

Was glaubt sein Sohn heute, wie der Vater in diese Lage geraten war? "Ich muss ehrlich sagen, es würde mich gar nicht stören, hätte mein Vater wirklich spioniert", sagt Helmut Sonnenschein. "Es war Kalter Krieg. Aber ich glaube, den Spionagering hat es nie gegeben. Herr von Hamm wollte sich mit seinen Behauptungen wahrscheinlich selbst retten, indem er andere Namen nannte." Hamm wurde "begnadigt" und statt zum Tode zu 15 Jahren Arbeitslager verurteilt - doch er starb bereits beim Transport.

"Es gab da eine Sache bei meinem Vater", sagt Helmut Sonnenschein: "Er hat nie mit seiner Meinung hinterm Berg gehalten. So war er erzogen. Er war nie vorsichtig." Schon in der Nazizeit nicht: Seine Assistentenstelle an der Uni verlor er 1936, weil er in der Doktorarbeit seinen jüdischen Lehrern dankte und die würdige Beerdigung eines jüdischen Professors organisierte. Sonnenscheins Hochschulkarriere im Nationalsozialismus war damit beendet.

Der aus Russland stammende Journalist Mario Bandi gehört zu jenen, die das Projekt "Die Letzte Adresse" nach Deutschland gebracht haben. Er war entsetzt darüber, dass die Sowjetmacht ihr Strafrecht auf dem Territorium eines anderen Staates anwendete. Artikel 58 verbot konterrevolutionäre Aktivitäten und definierte, wer als Feind der Sowjetunion galt. "Es war ein politischer Paragraf, der unabhängig von der tatsächlichen Tat jeden wegen seiner eigenen Meinung zum Antisowjetschik erklären konnte. Es brauchte dann keiner Beweise." Diese ausschließlich politisch begründete Strafe sei der Grund für die posthume Rehabilitierung gewesen.

Stalinverehrung in Russland, Schweigen in Deutschland
Bandi arbeitet als Autor in Berlin und wünscht sich, dass noch mehr Leute bei dem Projekt mitmachen - "in einer Zeit, da Stalin in Russland wieder hoch verehrt wird, man ihm Denkmäler setzt und es in der russischen Politik den Trend gibt, dessen schlechte Seiten zu vertuschen". In Deutschland allerdings höre er oft: Das Gedenken an Opfer des Stalinismus sei "Wasser auf die Mühlen von Neonazis, weil man ihnen damit ein Argument gebe, Hitler schönzureden, weil der gegen den schrecklichen Stalin gekämpft habe".

Für die Angehörigen der Opfer aber ist die Tabuisierung fatal. Denn besonders bei früheren DDR-Bürgern sei der innere Widerstand groß, die Verbrechen Stalins als solche zu sehen. "Ausgenommen Personen, die direkt betroffen waren: Wenn der Urgroßvater unter Stalin erschossen wurde, dann versteht man das irgendwie, dass er genauso schuldlos wie NS-Opfer verhaftet, abtransportiert worden und spurlos verschwunden ist", sagt Bandi.

Die Frage der eigenen Überzeugung hat auch konkrete Auswirkungen auf das Projekt: Anders als die "Stolpersteine", die im Boden eingelassen werden, kommt die "Letzte Adresse" als Tafel an die Hauswand. Für Russland erwies sich das als einzig praktikabler Weg: Die Stalinkritik des Memorial-Netzwerkes passe Putins Regierung nicht - weshalb putintreue Beamte nicht wagten, solche Gedenktafeln auf öffentlichem Grund zu genehmigen. Dagegen liegt bei der Anbringung an Häuserwänden die Entscheidung beim Eigentümer oder der Hausgemeinschaft.

Auch in Deutschland musste Bandi schon erleben, dass Hausbewohner eine Gedenktafel ablehnten. "Das war für mich völlig unverständlich. Schämen die sich? Halten die ihren Verwandten noch immer für einen Verbrecher?" Über die Gründe könne er nur mutmaßen. Womöglich wirkten kommunistische Erziehung und Indoktrination aus DDR-Zeiten noch nach: Wer abgeholt wurde, wird schon irgendwas verbrochen haben.

An der letzten Adresse von Dr. Helmut Sonnenschein wohnt heute sein Sohn Henk. Die Brüder sind froh, ihrem Vater und auch ihrer 1999 verstorbenen Mutter, die immer um die Rehabilitierung kämpfte, diese letzte Ehre erweisen zu können: Am Gartentor wird am Freitag, 17. Juli 2020, ein postkartengroßes Täfelchen angebracht. Ähnlich einem Ausweisdokument ist links ein Passbild-großes Viereck ausgeschnitten.

Dort, wo ein Bild stehen sollte, bleibt Leere. Daneben - eingestanzt in der Dokumentenschrift von Sowjetbehörden - steht zu lesen: "Hier lebte Dr. Helmut Sonnenschein / Mathematiker / geboren 1906 / verhaftet 16.11.1950 / zum Tode verurteilt 26.04.1951 / in Moskau erschossen 04.07.1951 / rehabilitiert 1994". Ein letzter Gruß an der letzten Adresse.

spiegel


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