Ursprünglich nur ein Provisorium

  15 September 2020    Gelesen: 730
Ursprünglich nur ein Provisorium

Es mag sich heute erstaunlich anhören, doch als vor siebzig Jahren der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet wurde, ging niemand davon aus, dass diese Organisation lange bestehen bleiben würde.

Mit einem Festakt in Berlin feiert der Zentralrat der Juden in Deutschland heute sein 70-jähriges Jubiläum. Dass diese Organisation so lange existieren würde, war bei der Gründung im Juli 1950 in Frankfurt am Main nicht geplant. Systematisch hatten die Nationalsozialisten die Juden verfolgt und vernichtet, sie hatten deren Eigentum "arisiert", die Synagogen zerstört und versucht, jüdisches Leben möglichst restlos auszulöschen.

Bei den rund 15.000 Juden, die sich fünf Jahre nach dem Holocaust in Deutschland aufhielten, handelte es sich zu einem nicht geringen Teil um Überlebende der Vernichtungslager, um "Displaced Persons" vor allem aus Osteuropa, die wohnungslos waren und in Camps darauf warteten, nach Israel oder Übersee emigrieren zu können. Dass sich jüdisches Leben in Deutschland nach dem Menschheitsverbrechen der Shoah noch einmal etablieren könnte, schien völlig undenkbar.

Der Zentralrat war deshalb auch nur als Provisorium gedacht, als Ansprechpartner für die jüdischen Überlebenden, als deren Unterstützungsorganisation, die etwa bei der Aus- oder Weiterwanderung behilflich sein sollte. Im Land der Täter würde es für Juden keine Zukunft geben, das war die feste Überzeugung der weitaus meisten Überlebenden. Auch am Namen der Organisation wurde das deutlich: Er lautete nicht "Zentralrat der deutschen Juden", sondern eben "Zentralrat der Juden in Deutschland"; er drückte also keine Zugehörigkeit aus, sondern lediglich einen Aufenthaltsort.

Dass Vertreter jüdischer Gemeinden überhaupt eine Repräsentanz in Deutschland gründeten, stieß in der jüdischen Welt und besonders in Israel gleichwohl auf großes Unverständnis und scharfe Ablehnung. Dessen ungeachtet stärkte der Zentralrat jüdische Einrichtungen und vertrat jüdische Interessen nach außen, etwa gegenüber der Bundesregierung. So versuchte er in den 1950er Jahren beispielsweise, Einfluss auf das Bundesentschädigungsgesetz zu nehmen, das die Grundlage für die Entschädigungsansprüche war, die einem Teil der Shoah-Überlebenden zuerkannt wurden.

"Ja, jüdisches Leben in Deutschland existiert"

Viele Jahre lang agierte der Zentralrat überwiegend im Hintergrund und trat nur selten an die Öffentlichkeit. Noch bis in die 1970er Jahre betrachteten sich viele jüdische Gemeinden als vorläufig, als "Liquidationsgemeinden", wie es seinerzeit hieß. Doch allmählich kam es zu einem Umdenken, "das war unter dem damaligen Vorsitzenden Werner Nachmann", wie sich Josef Schuster erinnert, der heutige Präsident des Zentralrats. Nachmann sei der Erste gewesen, "der offen gesagt hat: Ja, jüdisches Leben in Deutschland existiert".

Lange Zeit sei es in jüdischen Kreisen "sehr problematisch gewesen, sich dazu zu bekennen, dass man bewusst in Deutschland lebt", so Schuster. Doch nicht wenige überlebende deutsche Juden waren trotz der Shoah in jenem Land geblieben, wo ihre Vorfahren schon seit Jahrhunderten ansässig waren, oder dorthin zurückgekehrt – so wie Schusters Angehörige. Der Vater und der Großvater hatten den Holocaust überlebt und waren ins britische Mandatsgebiet Palästina ausgewandert. Josef Schuster wurde 1954 in der israelischen Stadt Haifa geboren, sechs Jahre nach der Gründung des jüdischen Staates. Als er drei Jahre alt war, zog die Familie wieder nach Franken.

"Nach und nach wurden die sprichwörtlichen 'gepackten Koffer' ausgepackt und verschwanden schließlich auf dem Dachboden", schrieb vor zehn Jahren Stephan J. Kramer, der seinerzeitige Generalsekretär des Zentralrats, anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Organisation. Seit den 1970er Jahren griff der Zentralrat auch häufiger in öffentliche Debatten ein und meldete Widerspruch an, wo er geboten war. So etwa im Mai 1985, als Bundeskanzler Helmut Kohl gemeinsam mit US-Präsident Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchte, wo auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind.

Der Zentralrat protestierte gemeinsam mit weiteren jüdischen Organisationen scharf gegen diesen Auftritt und blieb als Konsequenz der Gedenkveranstaltung von Kohl und Reagan im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen fern. "Die Bitburg-Affäre war damit ein Zeichen für das gestiegene Selbstbewusstsein von Menschen, die sich nicht mehr als eine Randgruppe der Gesellschaft, sondern als deren vollwertige Mitglieder empfanden", so Kramer.

Die Zäsur von 1989 und die Walser-Bubis-Debatte

Eine Zäsur bedeutete schließlich das Jahr 1989 – auch für den Zentralrat. Nach dem Zusammenbruch des realsozialistischen Staatenblocks und dem Fall der Berliner Mauer handelte er mit Bund und Ländern eine Zuwanderungsregelung für Zehntausende Juden aus der Sowjetunion aus. Als sogenannte Kontingentflüchtlinge sorgten die Einwanderer dafür, dass sich die Zahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland mehr als verdreifachte. Hinzu kamen die fünf in der DDR existierenden Gemeinden, die dem Zentralrat beitraten.

Die Aufgabe, die vielen neuen Mitglieder aus Osteuropa zu integrieren, stellte nicht nur die Gemeinden vor eine riesige Herausforderung, sondern auch den Zentralrat. Zugleich bezogen seine charismatischen Vorsitzenden wie Ignatz Bubis und Paul Spiegel zunehmend Position gegen den wachsenden Antisemitismus und die Israelfeindlichkeit in Deutschland.

Bubis war es auch, der den Schriftsteller Martin Walser im Oktober 1998 nach dessen Rede in der Frankfurter Paulskirche als "geistigen Brandstifter" bezeichnete. Walser hatte unter anderem von der "Moralkeule Auschwitz" schwadroniert und das Holocaust-Mahnmal in Berlin als "fußballfeldgroßen Alptraum" bezeichnet. 1200 Zuhörer hatten ihm dafür stehend applaudiert, nur Bubis, dessen Ehefrau Ida und der Theologe Friedrich Schorlemmer waren sitzen geblieben, konsterniert vom rauschenden Beifall des Bürgertums für diese Ungeheuerlichkeiten.

Antisemitismus gehört weiter zum Alltag

Wenn der Zentralrat, der die politische Vertretung von mittlerweile 105 jüdischen Gemeinden mit rund 100.000 Mitgliedern ist, heute in der Öffentlichkeit in erster Linie als mahnende und warnende Instanz wahrgenommen wird, bedeutet das vor allem zweierlei: zum einen, dass die Integration der Zuwanderer weitgehend abgeschlossen und damit kaum noch ein Thema ist. Und zum anderen, dass zu viele Nichtjuden den Kampf gegen den Antisemitismus nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachten, sondern als etwas, worum sich die Juden und ihre Repräsentanten selbst zu kümmern haben.

70 Jahre nach der Gründung des Zentralrats gibt es ein "selbstbewusstes jüdisches Leben" in Deutschland, wie Josef Schuster sagt. Beim Jubiläumsfestakt in Berlin, der im Innenhof der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße stattfindet, spricht die Bundeskanzlerin. Tatsache ist allerdings auch, dass Antisemitismus nach wie vor zum Alltag gehört und jüdische Einrichtungen von der Polizei geschützt werden müssen. Wo das nicht geschieht, wie im Oktober des vergangenen Jahres in Halle an der Saale, besteht die Gefahr eines tödlichen Anschlags.

Umfragen zufolge vermeiden es außerdem fast zwei Drittel der in Deutschland leben Juden, Symbole oder Gegenstände zu tragen oder zu zeigen, durch die sie als Juden erkennbar werden könnten, also beispielsweise eine Kippa oder einen Davidstern. Denn sie befürchten, ansonsten bedroht, beleidigt oder belästigt zu werden, nicht nur von Rechtsextremen, sondern zunehmend auch von Islamisten. Das ist sehr beunruhigend – und etwas, wofür nicht der Zentralrat zuständig ist, sondern die Politik und die gesamte Zivilgesellschaft.

Quelle: ntv.de


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