Wie viel Unterstützung bekommen junge Erwachsene, die in Heimen aufgewachsen sind? Welche Rechte haben Pflegeeltern? Und wer ist für Kinder mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen zuständig? Solche Fragen soll ein Gesetz neu regeln, dessen Ausarbeitung sich seit Monaten verzögert.
Eigentlich wollte das Bundesfamilienministerium den Referentenentwurf für das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz schon im Frühjahr fertig haben. Doch wegen der Corona-Pandemie habe die Ausarbeitung mehr Zeit in Anspruch genommen als geplant, sagte eine Sprecherin.
Nun geht es einen Schritt weiter: Wie das Familienministerium bestätigte, befindet sich der Entwurf in der Ressortabstimmung. Das Kanzleramt und die anderen Ministerien können dazu Stellung nehmen, bevor er an die Länder und Verbände geht und schließlich vom Kabinett beschlossen werden soll. Der Entwurf solle noch im Herbst ins Kabinett, hieß es.
Der neue Entwurf soll das Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) modernisieren. Darin sind die Jugendsozialarbeit, die Familienberatung, die sogenannten Hilfen zur Erziehung, die Inobhutnahmen und weitere Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe geregelt. Es betrifft laut Familienministerium bundesweit rund 1,5 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 27 Jahre, die zusätzliche Unterstützung benötigen. Etwa, weil sie in Heimen aufwachsen, weil ihre Eltern nicht angemessen für sie sorgen können oder weil sie eine Behinderung haben.
Das Papier, das dem SPIEGEL vorliegt, sieht für diese Zielgruppe unter anderem Folgendes vor:Die Zusammenarbeit von Jugendamt und Jugendgericht, Familiengericht und Strafverfolgungsbehörden im Kinderschutz soll verbessert werden. Es werde "eine erweiterte Mitteilungspflicht der Strafverfolgungsbehörden an Jugendämter geschaffen", heißt es in dem Entwurf. Diese sollen die Jugendämter umgehend informieren, "wenn in einem Strafverfahren Anhaltspunkte für die erhebliche Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt werden".
Jugendliche, die in einer Einrichtung oder einer Pflegefamilie leben, können auch nach dem 18. Geburtstag leichter als bisher Hilfe bekommen. "Viele dieser jungen Menschen verfügen über weniger stabile private Netzwerke und geringere soziale materielle Ressourcen als Gleichaltrige, die in ihren Elternhäusern aufgewachsen sind", so steht es in dem Entwurf. Sie seien anfälliger für Wohnungslosigkeit und stärker von Armut bedroht und bräuchten auch als junge Erwachsene noch oft Unterstützung.
Wenn Pflegekinder oder junge Menschen in Einrichtungen einen Schülerjob annehmen oder eine Ausbildung anfangen, mussten sie bisher bis zu 75 Prozent ihres Einkommens ans Jugendamt abführen. Dieser Anteil soll auf 25 Prozent sinken.
Familiengerichte sollen mehr Möglichkeiten bekommen, den Verbleib von Kindern und Jugendlichen in ihren Pflegefamilien auch dauerhaft anzuordnen, wenn das dem Kindeswohl dient.
Kinder und Jugendliche müssen künftig besser informiert werden, etwa bei Inobhutnahmen, also wenn sie aus ihren Familien genommen und vom Jugendamt anderswo untergebracht werden. Grundsätzlich sollen Kinder und Jugendliche einen "uneingeschränkten Beratungsanspruch" erhalten. Jugendämter sollen dazu verpflichtet werden, Anlaufstellen für Pflegekinder zu schaffen, wo diese sich bei Bedarf beschweren können.
Bisher hatten Kinder und Jugendliche mit körperlicher und geistiger Behinderung Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß SGB IX. Diese sollen in den kommenden sieben Jahren schrittweise in die Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe übergehen. Sogenannte Verfahrenslotsen bei den Jugendämtern sollen es Familien von 2024 an erleichtern, den Überblick über die Zuständigkeiten zu behalten und sich an die richtigen Stellen zu wenden. Bis Januar 2027 soll ein Bundesgesetz verkündet werden, das Art und Umfang der Leistungen neu regelt.
Für den Bund geht der Entwurf bis Ende 2027 von Mehrausgaben in Höhe von insgesamt rund 12,5 Millionen Euro aus. Auf die Verwaltungen der Länder und Kommunen kämen höhere Kosten von jährlich mindestens 89 Millionen Euro zu. Zudem würden wohl rund 44 Millionen Euro pro Jahr an zusätzlichen Leistungen in den Bereichen Hilfe zur Erziehung und Hilfe für junge Volljährige anfallen.
Die Idee, das SGB VIII moderner zu machen, gibt es schon lange. Doch der Prozess ist mühsam: Ein früherer Entwurf für ein neues Kinder- und Jugendstärkungsgesetz wurde bereits 2017 vom Bundestag beschlossen, dann aber im Bundesrat gestoppt.
Ein Jahr lang hatten Expertinnen und Experten aus der Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe und Gesundheitshilfe sowie aus Politik und Wissenschaft danach auf Einladung des Familienministeriums über den konkreten Reformbedarf diskutiert. Mehr als 5400 Fachleute und Betroffene hätten sich eingebracht, teilte das Ministerium mit. Die Ergebnisse der Debatte seien in den neuen Entwurf eingeflossen.
Kritik von Linken und Grünen
Die Linksfraktion im Bundestag kritisiert die aktuelle Vorlage. Unter anderem stört sich die Partei an der geplanten Änderung, wonach Familiengerichte Kinder auch dauerhaft bei Pflegeeltern unterbringen lassen können. "Es darf kein Adoptionsrecht zweiter Klasse geben", sagte Norbert Müller, kinder- und jugendpolitischer Sprecher der Fraktion. "Wir wollen, dass im Interesse der Kinder entschieden wird, und das ist in der Regel der Verbleib in der eigenen Familie. Wenn ein Kind in seiner Familie keine Zukunft hat, dann muss das am Ende eines Prozesses stehen, nicht am Anfang."
Außerdem sei im Referentenentwurf explizit erwähnt, dass bei einer Hilfe zur Erziehung künftig unterschiedliche Hilfearten kombiniert werden könnten, kritisierte Müller. "Mit dieser Formulierung wird ermöglicht, eine höherwertige und individuell zugeschnittene Hilfe durch eine billigere, weniger geeignete Hilfe, zum Beispiel einem Gruppenangebot, teilweise zu ersetzen."
Katja Dörner, stellvertretende Vorsitzende und Sprecherin für Kinder- und Familienpolitik der Grünen im Bundestag, sagte: "Ich bin positiv überrascht, dass offenbar geplant ist, das SGB VIII inklusiver zu gestalten. Ich dachte, da traut sich niemand mehr ran." Bereits vor drei Jahren habe es über dieses Vorhaben viele Diskussionen gegeben. Besonders die Kommunen seien damals skeptisch gewesen, wie das konkret umgesetzt werden könne.
Dass junge Menschen für ihre Unterbringung in Heimen oder Pflegefamilien weiterhin ein Viertel ihres Einkommens ans Jugendamt abgeben müssten, sei hingegen "keine adäquate Lösung", sagte Dörner. Dieser Beitrag müsse auf null herabgesetzt werden, um diese hilfsbedürftige Gruppe nicht unnötig zu belasten.
spiegel
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