Für einen Diplomaten findet Josep Borrell, Hoher Beauftragter der EU für die Außenpolitik, manchmal recht deutliche Worte. "Obwohl es den klaren Willen gibt, diese Sanktionen zu verhängen, war das heute nicht möglich, weil die dafür nötige Einstimmigkeit nicht erreicht wurde", sagte er etwa nach dem Treffen der EU-Außenminister am Montagnachmittag. Und fügte mit trauriger Miene hinzu: "Hier steht die Glaubwürdigkeit der EU auf dem Spiel."
Borrell übertreibt nicht. Eigentlich ist alles vorbereitet, um die lange angekündigten Sanktionen gegen Belarus in Kraft zu setzen. Listen mit rund 40 Gefolgsleuten von Machthaber Alexander Lukaschenko, gegen die Konten- und Einreisesperren verhängt werden sollen, sind längst fertig. Aber die Zustimmung der EU-Außenminister fehlt. Und deshalb ist bislang - bald zwei Monate nach der gefälschten Wahl in Belarus und dem Beginn der Demonstrationen gegen Lukaschenko - von den EU-Sanktionen nichts zu sehen.
Der Grund dafür hat mit Belarus überhaupt nichts zu tun. Die Republik Zypern (der Norden der Insel ist von türkischen Truppen besetzt) streitet mit der Türkei aktuell um Rohstoffe im östlichen Mittelmeer. Um zu verhindern, dass die Türkei dort weiter recht offensiv nach Gas sucht, verlangt Präsident Nikos Anastasiadis Sanktionen seiner EU-Partner gegen die Türkei. Bevor es die nicht gibt, wollen die Zyprer ihrerseits den Sanktionen gegen Belarus keinesfalls zustimmen.
Von strategischer Unabhängigkeit Europas nichts zu sehen
Das gilt auch für Griechenland, das ebenfalls mit den Türken im Rohstoff-Clinch liegt, die Sanktionen gegen Lukaschenko aber wenigstens nicht offen blockiert. Seitdem zieht sich die Sache - und die Blamage für Europa wächst mit jedem Tag.
Das wird auch außerhalb registriert. So konstatierte die "New York Times", die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja habe am Montag in Brüssel von den EU-Außenministern Sanktionen und "Tapferkeit" gefordert. "Sie reiste mit keinem von beiden ab." Von der strategischen Unabhängigkeit, die die Europäer gern zwischen den Weltmächten USA und China erreichen würden, ist nicht mal auf dem eigenen Kontinent etwas zu sehen.
Einmal mehr wirft die Frage der Sanktionen gegen die belarussische Führung ein Schlaglicht auf eines der größten Übel der gemeinsamen EU-Außenpolitik - sie erfordert Einstimmigkeit. "Es ist enttäuschend, dass sich die EU noch immer nicht auf Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime einigen konnte", sagt David McAllister (CDU), Chef des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, dem SPIEGEL. "Es zeigt sich einmal mehr: Das Einstimmigkeitsprinzip bei Sanktionen und Menschenrechtsfragen sollte ersetzt werden. Die gemeinsame EU-Außenpolitik muss effektiver werden."
Sollte die EU wegen der Blockade Zyperns auch mittelfristig keine Sanktionen gegen Belarus ergreifen können, "wäre der Schaden für die außenpolitische Glaubwürdigkeit der EU enorm", sagt die SPD-Politikerin Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments. "Das ist kein leuchtendes Beispiel europäischer Geschlossenheit und Entschlossenheit", konstatiert der Grünen-Außenpolitiker Reinhard Bütikofer. "Zyperns Regierung untergräbt auf schwer nachvollziehbare und selbstschädigende Weise die Handlungsfähigkeit der EU."
Nichts geht voran
Zwar können sich immer mehr EU-Staaten vorstellen, Lukaschenko selbst auf die Belarus-Sanktionsliste zu setzen - beim Außenministertreffen waren offenbar nur noch Schweden und Finnland ausdrücklich dagegen. Aber wegen Zyperns Veto geht nichts voran.
Umgekehrt weigern sich viele EU-Länder, allen voran Deutschland, Zyperns Wunsch nachzukommen, die Sanktionsliste gegen die Türkei zu verlängern. Man will das ohnehin schon angespannte Verhältnis zu Ankara, auch wegen der Flüchtlingsfrage, nicht noch weiter belasten. Zurzeit sind zwei Mitarbeiter des staatlichen türkischen Energiekonzerns TPAO mit Reise- und Kontosperren belegt.
Die Situation ist auch deshalb misslich, weil die Vermittlungsbemühungen der EU in den vergangenen Tagen offenbar erste Erfolge zeigten, jedenfalls im Streit zwischen Türken und Griechen. Das Erkundungsschiff "Oruc Reis", das von Militär begleitet in umstrittenen Gewässern schipperte, wurde in den Hafen zurückbeordert.
EU-Ratspräsident Charles Michel, Kanzlerin Angela Merkel und Kommissionschefin Ursula von der Leyen machten dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ihre Aufwartung, mal persönlich, mal per Videokonferenz. Erdoğan wich dem Vernehmen nach zwar in der Sache kaum von seiner Position ab. Aber er zeigte sich wenigstens von seiner umgänglichen Seite. Die Türkei stünde bei einer weiteren Eskalation ziemlich allein da.
Ärger über verschobenen EU-Gipfel
Es verfestigte sich der Eindruck, dass die Staats- und Regierungschefs das Problemknäuel zwischen Zypern, Griechenland und der Türkei bei ihrem für Donnerstag und Freitag geplanten Sondergipfel in Brüssel hätten entwirren können. Doch dann erfuhr Ratspräsident Michel am Mittwoch, dass sich einer seiner Sicherheitsleute mit dem Coronavirus infiziert hatte. Michel begab sich, den belgischen Regeln folgend, in Quarantäne und verlegte den Gipfel um eine Woche.
Das traf in vielen EU-Staaten auf Missfallen, weil Michel offenbar gar nicht erwog, sich bei dem Sondergipfel vertreten zu lassen. Nun sollen sich die Staats- und Regierungschefs Ende kommender Woche treffen. Bis dahin können EU-Diplomaten nur hoffen, dass sich Erdoğan nicht zur nächsten Provokation hinreißen lässt.
Diktator Lukaschenko nutzte das Zögern der Europäer, um Fakten zu schaffen. Er ließ sich im Kreis von Vertrauten als Präsident ins Amt einführen. "Lukaschenko erhöht so den Einsatz für die EU", sagt ein erfahrener Brüsseler Diplomat. Was er damit meint: Bislang erkennt die EU das Ergebnis der Wahl nicht an. Jetzt geht es gegen einen Präsidenten, der - wie unrechtmäßig auch immer - im Amt ist.
Erdoğan hält sich derweil alle Optionen offen. Die "Oruc Reis" könne jederzeit wieder auslaufen, kündigte er an. EU-Diplomaten verfolgen über Tracking-Webseiten im Internet gespannt, wo sich das Schiff derzeit befindet.
spiegel
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