Gerechtigkeit für ein Genie

  06 März 2016    Gelesen: 1002
Gerechtigkeit für ein Genie
Der Historiker Wolfram Siemann hat eine bahnbrechende Studie über den Politiker Fürst von Metternich geschrieben. Angela Merkel sollte sie lesen.
"Mein Leben ist in eine abscheuliche Periode gefallen", schrieb 1820 der in den Augen vieler Zeitgenossen mächtigste Mann Europas: "Heute bringe ich mein Leben zu, die morschen Gebäude zu stützen." Dabei konnte Clemens Fürst von Metternich fünf Jahren zuvor seinen größten Triumph feiern: den Sieg über Napoleon und die Etablierung einer dauerhaften europäischen Friedensordnung. Und immerhin standen ihm selbst noch 28 Jahre ganz oben bevor, bis die Revolution von 1848 ihn aus seinem Palais am Wiener Ballhausplatz ins Exil vertrieb. Doch dieser Ausnahmepolitiker durchschaute seine Epoche wie kaum jemand sonst.

Ein Unzeitgemäßer zu sein, zudem ein Unverstandener: dieses Gefühl kannte der meistgehasste Politiker seiner Zeit nur zu gut. Metternich: Das klingt bis heute nach Zensur und Überwachung, Geheimpolizei, europaweiter Unterdrückung von Freiheit und nationaler Selbstbestimmung, nach dem österreichischen Reaktionär, der das morsche Gebäude des Habsburgerreichs um jeden Preis vor dem wohlverdienten Untergang bewahrte. Metternich ist der bad guy der deutschen Geschichtsschreibung geblieben, in jedem Schulbuch als Finsterling präsent. Die andere einst angefeindete Jahrhundertgestalt wird hingegen längst von Klio getätschelt: Wer würde heute noch im Liberalen- und Sozialistenfresser Bismarck eine gänzlich üble Figur sehen?

Für die Europäer bedeutete die Französische Revolution Terror und Chaos

Doch Metternich war ganz anders, als wir bisher dachten. So behauptet es jetzt überzeugend eine bahnbrechende Biografie des emeritierten Münchners Historiker Wolfram Siemann – die erste bedeutende seit neunzig Jahren. Auf fast 1.000 Seiten inklusive Anmerkungen schildert er minutiös die Karriere des 1773 geborenen Staatsmannes, räumt anhand zahlreicher neuer Dokumente, Korrespondenzen und Archivfunde mit Legenden und Vorurteilen auf. In diesem eindrucksvollen, facettenreichen Werk spiegelt sich eine ganze Epoche, die aus der Zeit vor 1789 bis an die Schwelle von Bismarcks Reichseinigung heranreicht. 1789 brauchte es noch mehrere Wochen, bis außenpolitische Nachrichten die europäischen Höfe erreichten; im Todesjahr Metternichs 1859 übermittelten Telegrafen diplomatische Depeschen innerhalb kürzester Zeit.

Jahrhundertelang währte der Aufstieg der Metternichs, jener Familie mit rheinischen Wurzeln, deren Treue zum Haus Habsburg Stufe um Stufe belohnt wurde, mit Gütern und Ämtern, bis schließlich Clemens’ Vater Franz Georg kaiserlicher Spitzenpolitiker und Fürst wurde. Siemann spürt den Wurzeln des jungen Metternich im Alten Reich nach, jenem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dessen Ende 1806 unter den Kanonen Napoleons er bereits als Diplomat miterleben sollte, den sein Vater früh in Staatsgeschäfte einbezogen hatte. 17- und 19-jährig wirkte er als Reichsadliger bei den kaiserlichen Krönungszeremonien in Frankfurt mit, tanzte mit der späteren Königin Luise von Preußen. Wie hoch auch immer Metternich hinauskommen sollte: Stets war er sich der Tradition bewusst und seiner von den Habsburgern abgeleiteten Macht; Kaiser Franz wiederum wusste, wem er die Rettung des Hauses Habsburg im napoleonischen Zeitalter zu verdanken hatte, machte den Außenminister 1821 zum Staatskanzler und nannte ihn in seinem Testament 1835 "meinen treuesten Diener und Freund".

Zum Reich kam die Französische Revolution: 1789 war auch für Metternich die zentrale Erfahrung. Er hatte eine aufgeklärte Erziehung genossen, und wie viele europäische Adlige studierte er in Mainz und in Straßburg. Und er sah dort die Revolution: Von "einer Masse stumpfer Zuschauer, die sich Volk betitelten, umgeben", hatte er die Plünderung des Rathauses erlebt, "von einem trunkenen Pöbel, welcher ebenfalls sich als Volk betrachtete" – angeführt ausgerechnet vom Erzieher Metternichs, Hofmeister Simon; sein Mainzer Professor Andreas Hofmann wurde Präsident der jakobinischen Mainzer Republik.

Metternich erlebte also das revolutionär Neue aus der Nähe, wurde aber gerade deshalb immun "gegen den verführerischen Schein von Neuerungen und Theorien, die mein Verstand und mein Gewissen als nicht haltbar vor dem Richterstuhle der Vernunft und des guten Rechts beständig verworfen haben".

Immun machte den jungen Metternich ebenso sein von Siemann betontes England-Erlebnis 1794, wo er lebendige monarchische Traditionen und lebhafte parlamentarische Debatten erlebte: "Wenn ich nicht das wäre, was ich bin, wollte ich gern ein Engländer sein." Als Metternich dann 1801 österreichischer Gesandter zunächst in Dresden, später in Berlin und Paris wurde, war er Teil einer jungen und kosmopolitischen europäischen Elite.

Für die Europäer damals bedeutete die Französische Revolution eben nicht in erster Linie "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", sondern Terror, Chaos und 25 Jahre fast permanenten Krieg mit am Ende drei Millionen Toten. Metternich erkannte wie niemand sonst Genie und Grenzen Napoleons, und wie er trotz Niederlagen den Kaiser über die Jahre hin ausmanövrierte und als Außenminister seit 1809 eine europäische Koalition gegen ihn schmiedete, das liest sich wie ein Kriminalroman. Der Höhepunkt war das mehrstündige, äußerst harte Gespräch zwischen dem 43-jährigen Napoleon und dem 40-jährigen Metternich in Dresden 1813. In diesem Gespräch offenbart der Kaiser sein wahres Naturell: "Ein Mann wie ich scheißt auf das Leben von einer Million Menschen!"

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