Der Appell in ihrer Regierungserklärung war eindringlich: Zumindest in den »Hotspots der Hotspots« müssten Formen wie Hybrid- oder Wechselunterricht durchgeführt werden, um die Coronazahlen im Land zu senken, forderte Kanzlerin Angela Merkel am Donnerstag im Bundestag. Sprich: Die Empfehlungen vom Vorabend sollten unbedingt umgesetzt werden. »Ich halte das für absolut notwendig«, sagt die Kanzlerin, merklich unzufrieden mit dem weichen Kompromiss beim Thema Schulen, den sie zuvor in der Videokonferenz mit den Länderchefs ausgehandelt hatte.
Ob und wie Wechselunterricht umgesetzt wird, entscheiden weiter die Länder oder die Schulen vor Ort. Rechtlich ist dies zwar genauso vorgesehen – Bildung fällt in die Zuständigkeit der Länder –, aber in der Pandemie meldet sich Merkel dennoch bewusst zu dem Thema zu Wort: »Ich weiß, dass der Bund für Schulen keine Verantwortung hat«, sagte sie, »aber wir haben eine Verantwortung für das gesamte Infektionsgeschehen, und da können wir nicht so tun, als ob ältere Schüler gar keinen Beitrag dazu leisten.«
Die Bund-Länder-Runde hatte sich nach »einem langen Zeitraum in unseren Beratungen«, wie Merkel sagte, auf nicht besonders weitreichende Empfehlungen geeinigt: Schulen in Regionen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von über 200 Fällen pro 100.000 Einwohner sollen weitergehende Maßnahmen für die Unterrichtsgestaltung »schulspezifisch« umsetzen, heißt es in dem gemeinsamen Beschluss. Diese sollen ab Klassenstufe acht gelten, aber nicht zwingend für Abschlussklassen.
Als Beispiel werden Hybrid- oder Wechselunterricht angeführt, also Unterricht in Kleingruppen im Schichtsystem, sodass im Klassenraum der Mindestabstand eingehalten werden kann. Zwingend ist diese Vorgabe nicht.
Merkel und Kanzleramtschef Helge Braun hatten in den Beratungen mit den Länderchefs immer wieder deutlich gemacht, dass sie die Corona-Auflagen in den Schulen nicht für ausreichend halten. Ihr Vorschlag ging deutlich weiter als der nun ausgehandelte Kompromiss. »Bei besonders extremen Infektionslagen mit 150/200 Fällen pro 100.000 Einwohner pro Woche sollen schwerwiegende Maßnahmen wie Schulschließungen, Geschäftsschließungen und/oder Ausgangsbeschränkungen vorgesehen werden«, hieß es nach SPIEGEL-Informationen in einer Beschlussvorlage aus dem Kanzleramt.
Braun sagte am Donnerstag, der Bund habe etwa auf Empfehlungen des Robert Koch-Instituts (RKI) und der nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina verwiesen. Den Experten zufolge seien die Infektionszahlen bei jungen Menschen im Alter von 14 bis 24 Jahren derzeit besonders hoch, deswegen sei »Wechselunterricht« in getrennten Gruppen, »jedenfalls Abstand halten«, sinnvoll.
Das RKI empfiehlt bereits seit Wochen, schon bei einer 7-Tage-Inzidenz von mehr als 50 Fällen pro 100.000 Einwohner zum Wechselunterricht wie im Frühjahr zurückzukehren. Dieser Rat wird bisher jedoch nur vereinzelt befolgt, keineswegs flächendeckend. Die 16 Kultusminister der Länder wollten sich nicht auf ein entsprechendes, bundesweit abgestimmtes Vorgehen einigen. Sie halten seit Wochen daran fest, dass Präsenzunterricht oberste Priorität habe. So lasse sich das Recht auf Bildung am besten umsetzen.
Merkel dagegen betonte in ihrer Regierungserklärung, »Gesundheit oder Wirtschaft, Gesundheit oder Bildung – in solchen Gegensätzen zu denken, ist ein häufiges Missverständnis«. Immer ginge es um Gesundheit und etwa Bildung. Braun sagte, dass die Bundesregierung nun darauf setze, dass in Regionen mit hohem Infektionsgeschehen das Wechselmodell nun konsequent umgesetzt werde: »Ich würd's mir sehr wünschen.«
Ob alle Bundesländer diesen Wunsch erfüllen werden, bleibt abzuwarten. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) kündigte im Südwestfunk an, an den Schulen in seinem Land werde es bei sehr hohen Fallzahlen künftig Wechselunterricht geben. Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) hatte sich am Tag zuvor noch vehement gegen Forderungen gewandt, Schüler abwechselnd in der Schule und zu Hause unterrichten zu lassen. »Wechselunterricht in Baden-Württemberg wäre ein existenzieller Fehler«, sagte sie.
»Kein guter Kompromiss«
Eine Rückkehr zum Hybridunterricht ist unter Fachleuten und Schulakteuren seit Monaten heftig umstritten. So löste auch der Bund-Länder-Beschluss völlig gemischte Reaktionen aus. Sie hätte sich gerade für die älteren Schüler einen Übergang zum Hybridunterricht und klarere Beschlüsse bei der Maskenpflicht gewünscht, sagte die Virologin Melanie Brinkmann im Deutschlandfunk.
»Ich befürchte jetzt, dass wir uns immer um diese 50er-Inzidenz herum bewegen und dann wieder drübergehen und vielleicht dann wieder darunter, und das ist eigentlich kein guter Kompromiss, weil wir immer wieder jeden Tag neue Todesfälle haben werden.« Mit 50er-Inzidenz sind 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen gemeint.
Die Politik habe im Vergleich zum Frühjahr dazugelernt, indem sie Kitas und Schulen offenlasse, lobte dagegen Hans-Iko Huppertz, Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder und Jugendmedizin, zumal gerade von den Jüngeren nur eine sehr geringe Ansteckungsgefahr ausgehe. Die Coronainfektionen an Schulen bewegten sich im Promillebereich.
Auch einige Eltern loben den Beschluss: »Das verlässliche Beibehalten des Präsenzunterrichts bis Klasse 7 ist wichtig, um Bildungssicherheit und Teilhabe zu garantieren«, teilte Sabine Kohwagner von der Initiative »Kinder brauchen Kinder« mit. Präsenzunterricht sei weiterhin das Herz der Schulbildung.
Der mögliche Wechselunterricht für Schüler ab der 8. Klasse bei höherem Infektionsgeschehen sei daher kritisch zu sehen, so Kohwagner. »Distanz- oder Wechselunterricht benachteiligt als Erstes diejenigen Schüler:innen, die durch Elternhaus, Wohnort oder Herkunft ohnehin schon benachteiligt sind. Daher fordern wir individuelle und passgenaue Konzepte vor Ort, die die Bedürfnisse aller Schüler:innen berücksichtigen.«
spiegel
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