Trotz seit mehr als zwei Monaten geltender Lockdown-Maßnahmen bleiben die Corona-Fallzahlen hoch. Erschreckend hoch. Gehen die Einschränkungen nicht weit genug oder halten sich zu viele Menschen nicht an die Regeln? Wo genau stecken sich die Betroffenen an? Die Suche nach Antworten gleicht Stochern im Nebel.
Für fundierte Aussagen fehlen schlicht Daten. In vielen Fällen wisse man nicht, wo Infizierte sich angesteckt haben, sagte Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. "Einerseits haben wir zwar weniger Kontakte, andererseits wissen wir scheinbar aber trotzdem wenig darüber, wo es gewesen sein könnte."
Es gebe wenig große Ausbrüche. "Von Infektionsherden kann man nicht wirklich sprechen, eher von einzelnen Kerzen." In den Lageberichten des Robert-Koch-Instituts (RKI) ist von einer oft diffusen Ausbreitung von Sars-CoV-2-Infektionen in der Bevölkerung die Rede, "ohne dass Infektionsketten eindeutig nachvollziehbar sind". Häufungen stünden im Zusammenhang mit Alten- und Pflegeheimen, privaten Haushalten und dem beruflichen Umfeld. Zu der hohen Inzidenz trügen aber auch viele kleinere Ausbrüche etwa in Kliniken bei.
Zeeb ist zudem unklar, wie stark die wohl ansteckendere Coronavirus-Variante B.1.1.7 in Deutschland schon verbreitet ist. Der Anteil untersuchter Proben sei viel zu gering, um Rückschlüsse darauf zu ziehen. Dass das Sinken der Neuinfektionszahlen nur sehr langsam vorankomme, könne aber ein Indiz dafür sein, dass sich das Virus an manchen Stellen verändert habe.
Weihnachtstreffen als Infektionstreiber?
Kaum zu beantworten ist auch die Frage, ob Lockerungen bei den Kontaktbeschränkungen über Weihnachten die Zahlen auf hohem Niveau gehalten haben. Um die Feiertage herum sei weniger getestet worden, erklärte Zeeb. Daher seien die aktuellen Zahlen auch mit Vorsicht zu beurteilen. "Ich glaube, wir werden es nie ganz genau wissen." Positiv sei aber, dass es zumindest keinen rasanten Anstieg nach den Familienfesten gegeben habe.
Anders als im Lockdown im Frühjahr hätten viele große Betriebe noch offen, nennt der Epidemiologe einen weiteren Faktor. "Das führt dazu, dass viele Menschen unterwegs sein müssen." Zugleich warnte er davor, es sich zu einfach zu machen bei Ursachensuche und Argumentation - nach dem Motto: In den Firmen und Büros sind noch Leute zusammen, also wird es das schon sein.
Zumindest einen Anteil hat das Arbeitsmiteinander aber wohl schon. Die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig sagte am Sonntagabend in der ARD-Sendung "Anne Will", der Arbeitsplatz sei ein Bereich, wo noch mehr Kontakte eingeschränkt werden könnten. Derzeit gebe es noch viel weniger Menschen im Homeoffice als im Frühjahr.
Wichtig sei, zu verhindern, dass sich Menschen bei der Arbeit träfen und vielleicht noch zusammen essen gingen oder im Pausenraum die Masken abnähmen. "Das sind Maßnahmen, die sind jetzt ganz, ganz wichtig", so Brinkmann. "Wir müssen wirklich noch mal richtig dolle draufhauen", appellierte die Virologin. "Und je doller und schneller wir Virusübertragungen jetzt unterbrechen können, desto besser."
Unterschiede zwischen erstem und zweitem Lockdown
Kai Nagel, Leiter des Fachgebiets Verkehrssystemplanung und Verkehrstelematik an der TU Berlin, sagte dem "Tagesspiegel", im Frühjahr hätten die Menschen den Lockdown praktisch vorweggenommen und die Menge ihrer Aktivitäten außer Haus um 40 Prozent reduziert, noch bevor die Regierung das anordnete. Zum Jahresende hin sei es umgekehrt gewesen: "Die Maßnahmen griffen ab Mitte Dezember, und davor gab es hektische Betriebsamkeit."
Wichtige Faktoren zur Eindämmung der Pandemie sind aus seiner Sicht das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes und weniger Kontakte. "Wenn die Schulkinder wirksame Masken tragen und jeweils nur jeden zweiten Tag in die Schule kommen würden, wäre ihr Anteil an den Infektionen so gering, dass er keine Rolle mehr spielen würde", ist Nagel überzeugt. Maßnahmen wie Plexiglas-Abtrennungen am Arbeitsplatz hingegen seien wegen der Corona-Verbreitung über Aerosole wohl wenig zielführend. "Deshalb sollten Masken getragen werden, sobald mehr als eine Person im Raum ist."
Dabei tun sich gerade Behörden schwer mit dem Homeoffice. Wie der Deutsche Beamtenbund dbb in einer Befragung herausfand, konnten auf Bundesebene 67 Prozent der Beschäftigten dauerhaft ins Homeoffice wechseln, auf Landesebene nur 55 und auf kommunaler Ebene gerade einmal 37 Prozent. Das "Grundübel" sei schlechte technische Ausstattung, sagte ein Sprecher. Einige Führungskräfte wollten auch vor Ort sehen, was ihre Mitarbeiter machen. Und in manchen Fällen wie Steuerangelegenheiten sei Homeoffice wegen der Datensicherheit unmöglich.
Strenge Maßnahmen helfen
Generell aber: mehr Homeoffice und gegebenenfalls große Teile der Wirtschaft im nächsten Schritt stoppen? Dass strenge Maßnahmen helfen, die Ausbreitung des Virus deutlich zu verringern, zeigen Beispiele wie China, wo die Regierung viel rigoroser durchgreift. Ob man das mit all den damit verbundenen Folgen wolle, müsse für jeden einzelnen Fall diskutiert werden, sagte Zeeb.
Klar sei aber, dass die Grundlagen für politische Entscheidungen verbessert werden müssten. "Wir können unsere Entscheidungen noch nicht gut begründen, auf Grundlage von Daten", so der Forscher. "Wir wissen nicht mal hinterher, was ausschlaggebend gewesen ist." Weil die Pandemie noch Monate anhalten werde, sei es wichtig, gemeinsam festzuzurren, welche Daten man erheben wolle und wie diese intelligent interpretiert werden können. Das laufe bisher viel zu lückenhaft und uneinheitlich, so Zeeb. "Positiv formuliert: Da ist noch zu viel Vielfalt im System."
Quelle: ntv.de, Marco Krefting, dpa
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