Sebastian Kurz weiß, was der sichere Weg aus der Corona-Krise ist. Aber Österreichs Bundeskanzler wählt den anderen: Ab 8. Februar lockert Kurz' türkis-grüne Regierung den Lockdown, die Kinder dürfen wieder in die Schule gehen, ihre Eltern in den Baumarkt oder zum Frisör, auch Familienausflüge in den Zoo oder ins Museum sind wieder möglich.
Mehr Normalität wagen - dieser Schritt kommt überraschend. Weder die Infektionszahlen, noch die Expertisen der medizinischen Berater deuten auf eine Entspannung hin: Die Sieben-Tages-Inzidenz liegt knapp über 100, die Mutationen breiten sich im Land aus. Das Ziel des aktuellen Lockdowns, die Inzidenz auf 50 zu drücken, wurde weit verfehlt.
"Der sicherste Weg wäre es, im Lockdown zu verharren", räumte Kurz auf der Pressekonferenz am Montagabend ein. Warum er dennoch behutsame Lockerungen verordnet, formuliert der Bundeskanzler nur verklausuliert - von "sozialen und psychischen Aspekten", sprach Kurz. Sein Parteifreund Thomas Stelzer, Landeshauptmann in Oberösterreich, hatte es vor ein paar Tagen so auf den Punkt gebracht: "Wir steuern auf einen Lagerkoller zu."
Ohrfeigen für die Regierungslinie
Seit Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 untersucht die Universität Wien die Zustimmung der Bevölkerung zu den Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung, seit Wochen registrieren die Forscher eine "gewisse Pandemiemüdigkeit". Nur noch ein Drittel aller Befragten hält die Regierungslinie für angemessen, rund 28 Prozent wünschen sich eine Verschärfung, rund 36 Prozent halten den Lockdown für überzogen.
Eine noch heftigere Ohrfeige für die Regierung: Nur jeder Fünfte betrachtet die Maßnahmen als eher oder sehr effektiv. Ein subjektiver Eindruck, den die Fakten stützen: Seit Wochen sinken die Infektionszahlen nur leicht. Mobilitätsdaten zeigen, dass die Österreicher viel mehr unterwegs sind als noch im ersten "harten" Lockdown im März 2020.
Auf die Abstimmung mit den Füßen reagiert der Bundeskanzler mit Appellen: Wie sich die Lockerungen auswirken, "hängt von uns allen ab und davon, wie wir uns verhalten", schreibt Kurz auf Twitter. "Vor allem im privaten Bereich!" Wo gut Zureden nicht hilft, sollen härtere Strafen Wirkung zeigen: Ein Verstoß gegen die Masken- oder die Abstandspflicht kostet künftig 90 Euro. Auch die Grenzkontrollen sollen verschärft werden.
Der Handel ist zufrieden
Neben der Pandemiemüdigkeit setzten auch ganz handfeste Fakten die Regierung unter Lockerungsdruck: Das Bruttoinlandsprodukt ist laut Daten des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo im letzten Quartal 2020 um 20 Prozent gegenüber dem dritten Quartal eingebrochen. Besonders der Tourismus leidet, die Wintersaison, die Sebastian Kurz im Herbst noch mit einem Maßnahmenkatalog retten wollte, sie wird aller Voraussicht nach ein Totalausfall.
Der wirtschaftliche Niedergang hat dramatische Folgen für den Arbeitsmarkt, derzeit sind über eine halbe Million Menschen arbeitslos, eine Quote von rund elf Prozent und eine Steigerung zum Vorjahr von 27 Prozent. Weitere 470.000 Menschen sind in Kurzarbeit.
Besonders der Handel warnte vor höheren Arbeitslosenzahlen, wenn der Lockdown nicht bald beendet werde: 6500 Händler, also fast ein Drittel aller Einzelhandelsgeschäfte, seien de facto pleite, sagte der Geschäftsführer des Handelsverbands, Rainer Will. Er machte keinen Hehl daraus, dass er vehement bei der Regierung für die Öffnungen lobbyiert hatte, dementsprechend zufrieden registrierte Will die Entscheidung vom Montag. "Die Bundesregierung greift damit also das Motto des Handelsverbandes auf: Leben und Wirtschaften mit dem Virus", schrieb Will in einer Aussendung.
Kurz: Exponentielles Wachstum "realistisch"
Das Leben mit dem Virus wird zumindest in den nächsten Wochen in Österreich zu einem Experiment - unter verschärften Sicherheitsbedingungen: Einzelhändler dürfen pro 20 qm Fläche nur einen Kunden bedienen. Wer zum Frisör gehen will, braucht neben einem Termin auch einen höchstens 48 Stunden alten, negativen Corona-Test. Die Schüler, auch die Kleinsten, werden regelmäßig getestet, genauso wie Pendler.
"Ein Ritt auf der Rasierklinge", so umschrieb Kurz' ÖVP-Parteifreund Hermann Schützenhöfer, Landeshauptmann der Steiermark, die Strategie der Regierung. Oppositionsführerin Pamela Rendi-Wagner von den Sozialdemokraten unterstellte Kurz, die Kontrolle über das Pandemiegeschehen aus der Hand zu geben: "Die Bundesregierung geht ein hohes Risiko." So ganz wollte Kurz aber nicht den Eindruck erwecken, er gebe die Kontrolle ab - zumindest nicht die über die Notbremse: "Wenn die Zahlen exponentiell steigen - und das ist ein realistisches Szenario - dann werden wir wieder verschärfen müssen."
Quelle: ntv.de
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