Als Argentinien vor genau einem Jahr den harten Corona-Lockdown verhängte, zählte das Land offiziell rund 200 Infizierte. Es bestand die Hoffnung, das Virus irgendwie eindämmen zu können. Die Wirtschaft fuhr vorübergehend fast komplett herunter, der nationale Verkehr stoppte, der internationale sowieso. Die Maßnahmen zogen die erste Corona-Welle über viele Monate in die Länge, verhinderten so mehr Todesopfer. Zugleich nahm die Wirtschaftsleistung im Jahr 2020, dem Jahr von Lähmung und Stillstand, um mehr als ein Zehntel ab. Millionen weitere Menschen stürzten in die Armut.
Aber nicht nur in Argentinien, fast überall in Lateinamerika ging die Wirtschaftsleistung zurück. Zur Region gehören die Karibik, Zentral- und Südamerika. Verschiedene Länder gemeinsam zu betrachten, kann trügerisch sein. Die Unterschiede zwischen den Staaten sind groß: Was hat etwa Mexiko mit Uruguay oder Venezuela zu tun? Die Zahlen aus Lateinamerika - wir verwenden die des Internationalen Währungsfonds (IWF) - sind als Überblick zu verstehen. Keine andere Weltregion spürte die Pandemiefolgen im vergangenen Jahr so deutlich.
Die Bevölkerung wurde vom Virus hart und direkt getroffen. In Lateinamerika leben 630 Millionen Menschen und damit rund 8 Prozent der Weltbevölkerung, aber dort wurden bis Ende des Jahres 20 Prozent der weltweiten Ansteckungen und mehr als 25 Prozent der weltweiten Todesopfer registriert. Offiziell sind es inzwischen mehr als 741.000. Dazu kommt wegen geringerer Testmöglichkeiten eine mutmaßlich höhere Dunkelziffer als etwa in Europa oder den USA.
Die Gesamtwirtschaftsleistung in der Region ist laut IWF im Jahr 2020 um 8,1 Prozent eingebrochen, so stark wie nirgendwo sonst, ausgenommen die Euro-Zone. Dort sagen die IWF-Prognosen aber für 2021 eine deutlich stärkere und schnellere Erholung voraus als in Lateinamerika.
Am schlimmsten traf es Peru (minus 13,9 Prozent), Argentinien (minus 11,8 Prozent) und Ecuador (minus 11 Prozent). In Venezuela verringerte sich die Wirtschaftsleistung sogar um ein Viertel, sie schrumpft dort durch den politischen Ausnahmezustand bereits seit Jahren rapide. Die Pandemie hat diese Entwicklung nicht verursacht, aber verstärkt. Eine Ausnahme ist Guyana. Die Ölindustrie treibt das Bruttoinlandsprodukt nach oben.
Ein Fünftel der Firmen pleite
Alarmierend ist für die Menschen, dass fast 20 Prozent der Unternehmen bankrott gingen, fast alle davon Kleinhändler, Restaurants und andere Dienstleister. So hat die Pandemie bestehende soziale Ungleichgewichte noch sichtbarer gemacht, als sie ohnehin schon sind. Einkommen und Reichtum sind in der Region so ungleich verteilt wie nirgends sonst. Ein großer Teil der Menschen in Lateinamerika arbeitet informell. Ein Lockdown ist für sie gleichbedeutend mit Hunger. Das erklärt auch, warum manche Staaten sich vor Lockdown-Maßnahmen scheuten und scheuen.
Extrem ist die Situation in Ecuador, wo 92,1 Prozent der Arbeitnehmer außerhalb der Landwirtschaft nicht gemeldet sind. Sie sind dadurch umso gefährdeter, in Armut oder extreme Armut zu rutschen - falls sie sich nicht bereits dort befinden. Insbesondere diese unteren Einkommensschichten wurden von den Pandemiefolgen getroffen. Das gilt sowohl für schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle als auch für wirtschaftliche Härten.
Dabei rutschen viele Menschen in Lateinamerika und der Karibik schon seit 2014 mit jedem Jahr immer weiter in Richtung extreme Armut. Von damals 7,8 Prozent ist der Anteil derer, die als obdachlos gelten, im vergangenen Jahr auf 12,5 Prozent gestiegen. Dazu kommen 33,7 Prozent unter der Armutsgrenze. Damit fehlt fast der Hälfte der lateinamerikanischen Bevölkerung das Einkommen für Dinge des täglichen Bedarfs. Zuletzt hatte sich im Jahr 2001 ein so großer Anteil der Bevölkerung in solch prekären Lebenssituationen befunden. Um die Folgen der Pandemie einigermaßen abzufedern, zahlten einige Regierungen Boni an die Bevölkerung aus: Argentinien und Brasilien etwa, auch Kolumbien.
Da aber zugleich die Steuereinnahmen zurückgingen, sind die staatlichen Haushaltsdefizite und der Schuldenstand gewachsen. Argentinien und Brasilien, zwei der drei großen Volkswirtschaften Südamerikas, verzeichneten ein Haushaltsdefizit von mehr als 10 Prozent und einen Schuldenstand von rund 100 Prozent der Wirtschaftskraft. In Argentinien verlor der Peso zudem mehr als die Hälfte seiner Kaufkraft.
"Armen die großen Verlierer"
Auch der internationale Handel wurde weniger: Insgesamt wurden 10,1 Prozent weniger Waren exportiert und 13,4 Prozent weniger importiert. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind auch hierbei groß. Überdurchschnittlich eingebrochen sind die Exportzahlen in Paraguay, Uruguay, Peru und Argentinien. Besonders wenig importiert haben Panama, Paraguay, El Salvador, Ecuador, Mexiko und Kolumbien. Die ausländischen Gesamtinvestitionen brachen zugleich um die Hälfte auf insgesamt 80 Milliarden US-Dollar zusammen. Vor allem nach Argentinien, Chile, Kolumbien und Peru floss weniger Geld.
"Wie immer sind die Armen die großen Verlierer", sagte die Chefin der UN-Regionalkommission. Laut den Vereinten Nationen rutschten im Pandemiejahr in Lateinamerika weitere 22 Millionen Menschen in die Armut, die Gesamtzahl stieg auf 209 Millionen. Als extrem arm gelten nun 78 Millionen Menschen, das sind 8 Millionen mehr als noch 2019. Ein Drittel aller armen Haushalte, also Familien mit Minderjährigen, erhalten keine staatliche Unterstützung. Besonders in Zentralamerika sind die Menschen deshalb auf Überweisungen aus dem Ausland angewiesen. In manchen Ländern machen diese Zahlungen 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Größtenteils wird dieses Geld für Dinge des grundlegenden Bedarfs ausgegeben, etwa Ernährung oder Medikamente.
Als von Armut gefährdet gelten Menschen, die weniger als das Dreifache vom Mindestlohn verdienen; das sind rund 80 Prozent der Bevölkerung in der Region. Hoffnung machen die begonnenen Impfungen sowie steigende Weltmarktpreise für Rohstoffe und Lebensmittel in den vergangenen Monaten. Für viele Staaten sind dies die Haupteinnahmequellen, um ihren Bevölkerungen helfen zu können.
Trotzdem sind die aktuellen Prognosen für das Wirtschaftswachstum in der Region vergleichsweise düster - zumal sich in Brasilien bereits eine erneute Ansteckungswelle durch Virusmutationen läuft, die nicht nur das Land von Präsident Jair Bolsonaro zu erfassen droht, sondern auch die Nachbarstaaten. Ein rasches Ende des Albtraums ist für Lateinamerika schwer zu erkennen.
Quelle: ntv.de
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