Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Ungarn haben einen vorläufigen Tiefpunkt erreicht: Vorletzte Woche nimmt der ukrainische Geheimdienst zwei Staatsbürger fest, denen vorgeworfen wird, für Ungarn spioniert zu haben. Sie seien dem ungarischen Militärgeheimdienst unterstellt gewesen und aus Ungarn heraus gesteuert worden, wirft ihnen der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU vor.
Die Männer seien beauftragt worden, militärische Einrichtungen im ukrainischen Landesteil Transkarpatien auszuspähen. Sie sollten laut SBU herausfinden, ob man in der Region auf dem Schwarzmarkt Waffen kaufen kann und wie sich die Bevölkerung im Falle eines ungarischen Einmarsches verhalten würde.
In Transkarpatien prallen ukrainische und ungarische Interessen unmittelbar aufeinander. Die ukrainische Region ist etwa halb so groß wie Mecklenburg-Vorpommern. Sie liegt im äußersten Südwesten der Ukraine, eingekesselt zwischen Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. In der ukrainischen Oblast leben knapp über eine Million Einwohner. Unter ihnen sind dutzende Minderheiten. Die ungarische ist die größte, obwohl seit Kriegsbeginn viele Menschen abgewandert sind. "Früher lebten hier zwischen 150.000 und 200.000 ethnische Ungarn, mittlerweile sind es nur noch 60.000 bis 70.000", berichtet der ungarische Politikwissenschaftler Daniel Hegedüs im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".
Orban: "Aktionen zur Verunglimpfung Ungarns"
Die ungarische Regierung lässt die Vorwürfe nicht lange auf sich sitzen. Budapest spricht von Verunglimpfungen und verweist als Reaktion zwei ukrainische Diplomaten des Landes. Bei den Spionage-Vorwürfen handele es sich um anti-ungarische Propaganda, sagt Außenminister Péter Szijjártó. Regierungschef Viktor Orban will bereits die Ursache kennen: Das Referendum in seinem Land zum EU-Beitritt der Ukraine. "Das gefällt weder Brüssel noch Kiew", sagt der ungarische Ministerpräsident. "Deshalb initiieren sie Aktionen zur Verunglimpfung Ungarns."
Hegedüs ist von dem Vorfall nicht überrascht. "Militärspionage ist noch immer ziemlich verbreitet in Osteuropa", sagt der Experte vom German Marshall Fund, einer US-amerikanischen Stiftung. "Ich würde die strategische Gesamteinschätzung der ukrainisch-ungarischen Beziehungen aber nicht von diesem einzigen Fall beeinflussen lassen." Vielmehr sei das Verhältnis beider Länder wegen der Russlandnähe von Ungarn so schwer belastet.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 haben sich die Beziehungen zwischen Ungarn und der Ukraine immer weiter verschlechtert. Die ungarische Regierung steht eher auf der Seite von Russland als an der Seite der Ukraine - und möchte jetzt unbedingt verhindern, dass Kiew der EU beitritt.
Viktor Orban und seine Regierungskollegen torpedieren die europäische Unterstützung für die Ukraine seit Beginn des russischen Angriffs. Sie verurteilen die Milliarden-Zahlungen der EU an die Ukraine. Brüssel "verbrenne" das Geld in einem "gescheiterten Krieg", sagen sie. Erst Anfang des Monats schrieb Orban auf X: "Wir können nicht zulassen, dass unsere Kinder für Brüssels globalistische Fantasien bezahlen." Es ist an der Zeit, aus der Traumwelt zu erwachen und diejenigen aufzuwecken, die noch schlafen."
Ungarn-Experte: "Politische Propagandakampagne"
Ungarn befragt gerade seine Bürgerinnen und Bürger zum ukrainischen EU-Beitritt. Das Referendum läuft noch einen Monat. Diese Bezeichnung hat die Abstimmung laut Hegedüs aber gar nicht verdient. "Das ist kein Referendum. Was wir hier sehen, ist eine Art von Meinungsforschung, wo gezielt die Unterstützer der Regierung mobilisiert werden. Es handelt sich um eine politische Propagandakampagne, wo die Regierung probiert, eine Fassade von demokratischer Legitimation hinter die sehr fragwürdige Position bezüglich des EU-Beitritts der Ukraine aufzubauen."
Bei dieser Art von Volksbefragung sei es in Ungarn in der Vergangenheit möglich gewesen, "mit mehreren registrierten Mail-Adressen mehrere Stimmen abzugeben", weiß Hegedüs im Podcast. Aus dem Ergebnis sollten die europäischen Partner deshalb "keine weitreichenden Schlüsse" ziehen, so der Experte.
Die ungarische Regierung hat die Staatsmedien bei der Frage nach dem angestrebten EU-Beitritt der Ukraine wenig überraschend auf ihrer Seite. Hier wird die Stimmungsmache gegen die Ukraine vehement befeuert, das von Russland angegriffene Land als "Zentrum des Drogenhandels und der Kriminalität in Osteuropa" beschrieben, als Mafia-Staat, der die EU mit "billigen Arbeitskräften überschwemmen" werde.
Feldzug gegen ukrainische Landwirtschaft
Einen weiteren Angriffspunkt sehen Regierung und Staatsmedien in der ukrainischen Landwirtschaft. Eine Aufnahme der Ukraine in die EU würde den europäischen Markt mit genetisch veränderten Billiglebensmitteln überfluten, argumentiert Budapest in einem Schreiben, das den Abstimmungsunterlagen beiliegt und die Risiken eines EU-Beitritts auflistet.
Die gentechnisch veränderten Lebensmittel würden erhebliche Gesundheitsrisiken mit sich bringen. Für ungarische Bauern würden bei einem ukrainischen EU-Beitritt kaum noch Fördermittel zur Verfügung stehen. Diese würden stattdessen alle in die Ukraine gehen, weil die Ackerfläche rund ein Drittel der gesamten EU-Anbaufläche ausmacht.
Tatsächlich dürfen gentechnisch veränderte Pflanzen in der Ukraine angebaut werden und in Ungarn trotz entsprechender EU-Regelungen nicht. "Ungarn ist mit dieser Position in der EU nicht alleine", gibt Hegedüs zu bedenken und verweist auf die Zeit kurz nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine. "Als die ukrainischen Landwirte wegen der Abschottung des Schwarzen Meeres ihre Produkte nicht global exportieren konnten, wurden viele landwirtschaftliche Erzeugnisse in Supermärkten in Polen, der Slowakei, Rumänien und Ungarn verkauft." Das habe die Landwirte in den betroffenen Staaten finanziell geschadet, macht der Politikwissenschaftler deutlich.
Allerdings will Kiew seine Landwirtschaftspolitik den Brüsseler Gesetzen in diesem Bereich zumindest teilweise angleichen, schreibt die EU-Kommission. Kiew hat das Gesetz dazu bereits 2023 verabschiedet. Nächstes Jahr im September soll es in Kraft treten.
Diesen Umstand ignoriert Ungarn - die Wahlberechtigten werden darauf in den Unterlagen zum Referendum nicht hingewiesen. Stattdessen heißt es, dass die Regale in ungarischen Supermärkten nach einem EU-Beitritt der Ukraine "mit minderwertigen und gentechnisch veränderten Produkten überflutet" werden.
Ungarischer Einmarsch in die Ukraine? "Ziemlich radikale Interpretation"
Für zusätzliche Brisanz sorgte zuletzt die Veröffentlichung einer zwei Jahre alten vertraulichen Rede des ungarischen Verteidigungsministers. Darin sagt Kristóf Szalay-Bobrovniczky, dass Ungarn zur "Phase Null auf dem Weg in den Krieg" übergehe und mit seiner "Friedensmentalität" breche. Welchen Krieg der Minister meint, geht aus dem Mitschnitt nicht hervor.
Den Mitschnitt hat Oppositionsführer Péter Magyar veröffentlicht. Szalay-Bobrovniczky erklärte in seiner Reaktion auf die Veröffentlichung, dass er sich ganz allgemein habe ausdrücken wollen. Angesichts der gegenwärtigen Krise müsse Ungarn gut vorbereitet sein, den Frieden zu erhalten.
Doch Kritiker der ungarischen Regierung sind alarmiert. Sie interpretieren die Aussagen des Verteidigungsministers so, dass Ungarn sogar nach Transkarpatien einmarschieren könne, um die ungarische Minderheit zu beschützen - so begründet Russland auch seine Invasion der Ostukraine. Von solchen Spekulationen hält Hegedüs aber nichts. "Das ist eine ziemlich radikale Interpretation. Ich nehme an, dass die Aussagen in einem Nato-kompatiblen Kontext zu verstehen sind, dass es darum geht, für den Ernstfall vorbereitet zu sein." Mit Ernstfall, so die Überzeugung des Experten, sei aber kein militärisches Vorgehen gegen die Ukraine gemeint.
Bevölkerung in Ukraine-Frage gespalten
Die Grundhaltung der ungarischen Führung ist dennoch offensichtlich: Viele Positionen sind prorussisch. Die Ukraine dient als Feindbild.
In der ungarischen Bevölkerung ist das Meinungsbild gespaltener. Das Republikon-Institut hat im Auftrag der Népszava-Zeitung, der einzigen verbliebenen unabhängigen Tageszeitung in Ungarn, vor kurzem eine Umfrage zu dem Thema durchgeführt. Das Ergebnis: 47 Prozent der Befragten sind langfristig für die EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Der Großteil der Befürworter wünscht sich einen EU-Beitritt in sieben bis zehn Jahren. 46 Prozent sind grundsätzlich dagegen und 7 Prozent in der Beitrittsfrage noch unentschlossen.
Das Ergebnis sei wegen der im Vergleich zur Umfrage der Regierung anderen Fragestellung differenzierter ausgefallen, sagt Hegedüs im ntv-Podcast. "Ein großer Teil der ungarischen Bevölkerung ist selbstverständlich offener für einen Beitritt, wenn nicht wie im Fall der Regierungs-Abstimmung suggeriert wird, dass die Ukraine vielleicht schon dieses Jahr ungeachtet der Erfüllung von Beitrittskonditionen Teil der EU wird."
Orban: Jetzt oder nie
Daniel Hegedüs geht aber dennoch davon aus, dass Ungarn den EU-Beitrittsprozess noch lange untergraben und hinauszögern wird. Er nennt Griechenland und Bulgarien als "Vorbilder": Die beiden Länder zögern seit mittlerweile zwei Jahrzehnten den Beitritt von Nordmazedonien in die EU hinaus. Der Ungarn-Experte ist überzeugt: Solange Viktor Orban in Budapest regiert, wird sich an der Ukraine-kritischen Haltung von Ungarn nichts ändern.
Auch der ungarische Regierungschef selbst glaubt jedoch nicht, dass er den ukrainischen EU-Beitritt im Alleingang stoppen kann. Es sei schwierig, den Prozess aufzuhalten, sagte Orban zuletzt im Interview mit einem staatlichen Radiosender. Klar ist ihm zufolge nur: "Entweder wir stoppen ihn jetzt, oder wir können ihn später nicht mehr stoppen."
Quelle: ntv.de
Tags: