"Muss ihm Auftrag oder Beteiligung nachweisen"

  18 März 2022    Gelesen: 745
"Muss ihm Auftrag oder Beteiligung nachweisen"

In der Ukraine schlagen regelmäßig Bomben in Wohngebäuden, Krankenhäusern oder Theatern ein und töten Zivilisten. Begehen die russischen Streitkräfte damit Kriegsverbrechen? Ist der russische Präsident Wladimir Putin dafür verantwortlich? Juristisch sei die Sachlage kompliziert, sagt Völkerrechtsexpertin Elisabeth Hoffberger-Pippan von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Gespräch mit ntv.de. "Das Völkerstrafrecht besagt, dass grundsätzlich nur vorsätzliches Handeln strafbar ist. Mit Blick auf die Ukraine müssen wir uns also fragen, ob das, was dort geschieht, Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit ist."

ntv.de: Ist Wladimir Putin Ihrer Meinung nach ein Kriegsverbrecher?

Elisabeth Hoffberger-Pippan: Emotional betrachtet, ja. Dafür liegen zahlreiche Indizien vor. Juristisch muss man allerdings differenzieren. Bei Kriegsverbrechen muss neben der objektiven auch eine subjektive Tatseite erfüllt sein. Als Beispiel: Wenn ein Kombattant im Krieg einen Zivilisten tötet, ist die objektive Tatseite erfüllt. Subjektive Tatseite bedeutet, dass für dieses Verbrechen auch ein Motiv vorgelegen haben muss. Das Völkerstrafrecht besagt, dass grundsätzlich nur vorsätzliches Handeln strafbar ist. Leicht oder grob fahrlässiges Handeln reicht in der Regel nicht aus. Mit Blick auf die Ukraine müssen wir uns also fragen, ob das, was dort geschieht, Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit ist.

Aktuell kursieren im Internet beispielsweise Meldungen und Videos, in denen ein russischer Soldat einen Zivilisten oder eine Zivilistin tötet, der oder die mit erhobenen Händen vor ihm steht. Das Video müsste natürlich noch verifiziert werden, aber das wäre schon ein deutliches Indiz für intentionales Handeln.

Angenommen, das Video lässt sich verifizieren: Schuldig wäre dann doch aber der Soldat und nicht Wladimir Putin, oder?

Vor dem Internationalen Strafgerichtshof werden Individuen und nicht Staaten belangt. Das muss nicht immer nur der unmittelbare Täter sein. Gerade im militärischen Kontext gibt es mehrere Verantwortungsketten: Soldaten, aber auch Kommandeure und andere Vorgesetzte - bis hin zu Regierungschefs und Präsidenten. Auch jemand, der in dieser Kette "weiter hinten" steht, kann durch eine entsprechende Autorisierung oder einer anderen vorsätzlichen Beteiligung zu einem Kriegsverbrechen beitragen.

Und wenn Putin behauptet, dass er in den Gesprächen mit seiner Militärführung immer betont habe, bitte ganz besonders auf die Gesundheit von Zivilisten zu achten? Man kann ihn ja schlecht dafür verantwortlich machen, was genau seine Soldaten im Einzelnen an der Front tun. Oder steht er als Oberbefehlshaber immer in der Verantwortung?

Wenn Beweise vorgelegt werden, dass Putin dies gesagt hat, müsste das natürlich im Falle einer Anklage in die Beurteilung mit einbezogen werden. Ansonsten steht er als Oberbefehlshaber dann in der Verantwortung, wenn ein Soldat oder eine Soldatin einen Zivilisten erschießt und Putin dies in Auftrag gegeben oder anderweitig zur Tat beigetragen hat.

Würde ihm denn diese Art von Semantik helfen, wonach es sich beim Krieg in der Ukraine gar nicht um einen richtigen Krieg handelt, sondern lediglich um eine "militärische Spezialoperation"?

Nein. Der russische Angriff stellt einen internationalen bewaffneten Konflikt dar. Das ist unumstritten. Sollte es zu einem Verfahren kommen, kann Putin natürlich sagen, dass es sich nicht um einen Krieg im eigentlichen Sinne handelt, sondern um eine Spezialoperation, aber diese Aussage wäre juristisch nicht relevant. Besonders relevant wären für die Urteilsfindung dagegen Aussagen von Betroffenen und Zeugen. Dafür gibt es auf der Homepage des Internationalen Strafgerichtshofs bereits ein eigenes Portal, wo Personen, die potenzielle Kriegsverbrechen gesehen haben, ihre Erfahrungen schildern können, damit der Gerichtshof diese Daten im Falle einer Anklage, aber auch schon davor sammeln und nutzen kann.

Bei den Zivilisten würde es sich mutmaßlich um Ukrainer handeln. Die wären in einem Verfahren gegen Russland oder Putin verständlicherweise nicht unbefangen.

Es wird natürlich nicht bei der Aussage allein bleiben, es müssen gewisse Kriterien erfüllt und vor allem Beweise vorgelegt werden. Dieser Vorfall, wo ein russischer Soldat einen ukrainischen Zivilisten getötet haben soll: Davon gibt es ein Video, das angeblich bereits verifiziert wurde. Dieses Video muss der Gerichtshof erhalten, damit er es ebenfalls überprüfen kann. Gerade in der Ukraine gibt es viele Handy-Aufnahmen, anhand derer man die konkreten Umstände nachvollziehen kann. Es wäre auch möglich, dass der Strafgerichtshof Gutachten von Experten einholt, um beispielsweise die Flugbahn einer Rakete zu berechnen und feststellen zu können, ob sie ein militärisches oder ziviles Objekt treffen sollte.

Und was macht man, wenn kein Video vorliegt? Nach dem Angriff auf die Kinderklinik behauptete Russland, dort hätten sich ukrainische Kämpfer versteckt.

Das humanitäre Völkerrecht verlangt, dass Angriffe grundsätzlich nur gegen militärische Objekte und feindliche Kombattanten ausgeübt werden. Das Krankenhaus ist zunächst definitiv ein ziviles Objekt. Wenn sich dort aber ukrainische Kämpfer aufhalten und Angriffe auf russische Streitkräfte verüben, wird es zu militärischen Zwecken genutzt. Dann handelt es sich um ein so-genanntes military object "in use" und dürfte nach den Bestimmungen des humanitären Völkerrechts angegriffen werden.

Wichtig ist aber, festzuhalten, dass Krankenhäuser unter besonderem Schutz stehen und ein Angriff nur schwer zu rechtfertigen ist. Russland war vor dem Angriff verpflichtet, zwischen dem militärischen Vorteil, der durch diese Operation entsteht, und dem Schaden an der Zivilbevölkerung abzuwägen. Nur wenn der militärische Vorteil größer als der Schaden ist, kann der Angriff gerechtfertigt sein. Bisher deutet alles darauf hin, dass unermessliches Leid verursacht wurde. Ich kann mir also nicht vorstellen, wie dieser Angriff gerechtfertigt werden soll. Damit hat Russland das Verhältnismäßigkeitsprinzip verletzt. Auch das kann gegebenenfalls völkerstrafrechtliche Konsequenzen haben.

Bei der Frage, ob der Angriff verhältnismäßig war, handelt es sich aber nicht um eine Ex-Post-Betrachtung. Wir müssen uns in die russische Lage vor dem Angriff hineinversetzen. Was haben sich die russischen Kommandeure dabei gedacht? Welche strategischen und taktischen Überlegungen wurden getroffen? Haben die russischen Streitkräfte nachweislich, nachhaltig und verantwortungsbewusst abgewogen zwischen dem militärischen Vorteil und dem Schaden an der Zivilbevölkerung?

Der Angriff auf diese Klinik könnte in der Theorie also verhältnismäßig und gerechtfertigt gewesen sein?

Nur, wenn sich dort tatsächlich Soldaten und Soldatinnen der Ukraine aufgehalten haben, um militärische Angriffe auszuführen. Dann handelt es sich nicht um einen direkten Angriff auf die Zivilbevölkerung, sondern das Krankenhaus stellt für diese konkrete Operation ein militärisches Objekt dar. Aber weil sich dort eben auch viele Zivilisten in einer besonders vulnerablen Situation befinden, muss man das vorab genau abwägen und gegebenenfalls warnen, damit sie das Krankenhaus vor dem Angriff verlassen können. Eine derartige Warnung scheint es aber nicht gegeben zu haben.

Wie viel Aufwand muss denn eine Armee im Krieg betreiben, um festzustellen, ob es sich um ein ziviles oder ein militärisches Ziel handelt? Ist ein Mann, der einen Schutzhelm trägt, schon ein Kämpfer?

Im humanitären Völkerrecht haben sich Kombattanten von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden. Wenn ich Kämpferin bin, bin ich verpflichtet, das zu kennzeichnen - zum Beispiel durch eine Uniform, eine offen getragene Waffe und ein entsprechendes Abzeichen, das mich als Angehörige der Streitkräfte identifiziert. Im Zweifel gilt, dass alle Menschen Zivilisten sind. Wenn ich also den Verdacht habe, dass es sich bei meinem Gegenüber vielleicht nicht um einen Kombattanten handelt, darf ich eigentlich nicht angreifen.

Und wenn ich meine Waffen verstecke, um diese Annahme auszunutzen?

Das ist natürlich möglich. Allerdings verletzt man dann das sogenannte Perfidieverbot: Wenn ich mich wie eine Zivilistin kleide, um mein Gegenüber in die Irre zu führen, bringe ich die gesamte Zivilbevölkerung in Gefahr. Das wäre ebenfalls eine Verletzung des humanitären Völkerrechts.

Angenommen, man stellt fest, in der Ukraine wurden Kriegsverbrechen begangen: Wie bekommt man Wladimir Putin vor den Strafgerichtshof? Wenn ich das richtig verstehe, verhandelt das Gericht nicht in Abwesenheit des Angeklagten, aber Putin wird ja nicht freiwillig erscheinen.

Das ist das Kernproblem: Sollte es tatsächlich zu einem Haftbefehl kommen, ist Putin nach wie vor amtierender Präsident. Niemand kann nach Russland fahren und diesen Haftbefehl ausführen. Das heißt, wir müssen einfach warten und hoffen, dass Putin irgendwann nicht mehr Präsident von Russland ist, dass er von einer neuen, etwas völkerrechtsfreundlicheren Regierung ausgeliefert wird. Aber mal sehen, ob es in absehbarer Zeit dazu kommt.

Zumindest vor seinem Einmarsch in der Ukraine-Krieg sah es so aus, als würde Putin auf ewig russischer Präsident bleiben. Dann wäre er womöglich ein Kriegsverbrecher, der nicht belangt werden kann?

Das ist auch meine größte Befürchtung. Es gibt noch die Idee, dass man wie im Fall von Myanmar einen sogenannten Investigativmechanismus ins Leben ruft. Dann würden die Verbrechen der russischen Streitkräfte in der Ukraine zumindest dokumentiert und offiziell belegt werden, aber das wäre dann natürlich kein Strafverfahren mehr, bei dem jemand zur Verantwortung gezogen wird. Bei einem Investigativmechanismus geht es eher um die Feststellung an sich, dass Kriegsverbrechen begangen und offiziell anerkannt wurden.

Das heißt, alle Oberbefehlshaber, die sicher im Amt sind, haben mehr oder weniger einen Freibrief, Kriegsverbrechen zu begehen?

Tatsächlich ist das Auslieferungsrecht bei der internationalen Strafgerichtsbarkeit das Zünglein an der Waage. Für die Implementierung eines Haftbefehls macht es einen großen Unterschied, ob ich amtierender Präsident bin oder meine Immunität verloren habe, weil ich nicht mehr im Amt bin. Das ist ein Umstand, dem wir uns nicht entledigen können. Das müssen wir immer berücksichtigen.

Mit Elisabeth Hoffberger-Pippan sprach Christian Herrmann

Quelle: ntv.de


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