"Jetzt beginnt die Phase des Abnutzungskriegs"

  26 März 2022    Gelesen: 479
  "Jetzt beginnt die Phase des Abnutzungskriegs"

Ukrainische Streitkräfte gewinnen vor Kiew immer mehr an Land zurück, während die russische Armee hohe Verluste verzeichnet. Das Kräfteverhältnis der beiden Truppen scheint ins Wanken zu geraten. Was die Erfolge der Ukraine zu bedeuten haben, erklärt Militärexperte Wolfgang Richter.

ntv.de: Die russische Armee kommt nicht so schnell voran, wie sich Präsident Wladimir Putin das erhofft hatte. Nun kommen auch noch Berichte dazu, in denen die ukrainische Armee die Russen vor Kiew rund 55 Kilometer zurückgedrängt und Städte zurückerobert haben sollen. Kann man diesen Berichten Glauben schenken und ist das ein Zeichen einer echten ukrainischen Gegenoffensive?

Wolfgang Richter: Die russische Offensive ist mit Sicherheit ins Stocken geraten, die russische Führung hat viele Fehler gemacht. Sie ist auf eine mittlerweile gut ausgebildete und ausgerüstete ukrainische Armee gestoßen, die nicht nur Erfolge in der Verteidigung hat, sondern auch bei örtlichen Gegenstößen wieder Gelände gutmachen kann. Das ist aber nicht zu verwechseln mit einer operativen Gegenoffensive, sondern es geht darum, schrittweise mit kleineren Vorstößen und in Ortskämpfen die russische Armee ins Wanken zu bringen. Das scheint um Kiew herum auch geglückt zu sein.

So erfolgreich, dass russische Streitkräfte einen Rückzug machen mussten?

Da muss man unterscheiden. Es geht nicht um einen Truppenrückzug Russlands, sondern um einzelne Einheiten, die hohe personelle Verluste hatten und zurückgezogen wurden, um ausgetauscht zu werden. Es wird allerdings schwierig für Russland sein, genügend Reserven aufzutreiben, denn auch die sind begrenzt. Wenn Putin aber eine Mobilisierung einleiten würde, um Reservisten zu den Fahnen zu holen, hätte das eine größere innenpolitische Rückwirkung. Dann würde es sehr deutlich werden, dass es sich hier nicht um eine "militärische Spezialoperation" handelt, wie der Kreml es nennt, sondern um Krieg. So weit sind wir noch nicht. Aber die russischen Verluste sind personell und materiell sehr hoch und die Streitkräfte strategisch überdehnt.

Woran kann man das sehen?

Das kann man daran messen, dass von den etwa 360.000 aktiven Landstreitkräften schon über die Hälfte in der Ukraine im Einsatz sind. In einem Land, das sehr lange Grenzen hat, die man überwachen muss, ist das sehr viel. Die verfügbaren Bodentruppen sind also jetzt schon sehr überdehnt. Das bedeutet, dass die Russen sich in Stadtkämpfen verzetteln und sich festgebissen haben. Es geht dort schon seit zehn Tagen nicht mehr weiter, weil sie operative und taktische Fehler gemacht haben, sowie Logistik- und Motivationsmängel haben. Der Unmut bei den russischen Soldaten und in der Bevölkerung nimmt zu. Es scheint jetzt die Phase eines Abnutzungskrieges zu beginnen, in dem es keine größeren Bewegungen mehr gibt, der so lange dauert, bis eine Seite erschöpft ist. Erst danach könnte es vielleicht wieder einen Durchbruch geben, sofern dann noch kampfkräftige Reserven für einen Bewegungskrieg zur Verfügung stehen. Danach sieht es aber momentan nicht aus. Stattdessen wird es hohe Verluste in den umkämpften Städten geben, weil dort der Abnutzungskampf vor allem mit verstärkter Feuerkraft geführt wird und für tiefe Vorstöße nicht genügend Infanterie vorhanden ist.

Die russische Armee setzt daher verstärkt auf Angriffe aus der Luft?

Bei den Luftstreitkräften haben die Russen mit Sicherheit noch eine Überlegenheit, aber selbst dort mussten sie hohe Verluste hinnehmen. Es ist ihnen nicht gelungen, die Luftherrschaft über der Ukraine zu erringen.

Es gibt Experten, die sagen, dass es sich bei den russischen Opfern hauptsächlich um Soldaten der Nachschubversorgung handelt - nicht um aktiv kämpfende Soldaten. Stimmt das und wenn ja, macht das einen Unterschied?

Es ist richtig, dass die Ukraine die russische Logistik sehr geschickt angegriffen hat. Der Vormarsch der Kampfeinheiten kommt zum Erliegen, wenn sie keinen Nachschub mehr haben. Wir sollten aber nicht unterschätzen, dass in Stadtkämpfen auch hohe Verluste bei den Kampfeinheiten entstehen. Es trifft also beides zu: Es gibt sowohl bei der Logistik als auch bei den russischen Kampftruppen hohe Verluste.

Wie ist die Ukraine personell im Vergleich zu Russland aufgestellt? Es kursieren immer wieder unterschiedliche Zahlen, was die Größe der russischen Armee angeht.

Der Personalumfang der aktiven Landstreitkräfte Russlands von 360.000 setzt sich aus 280.000 beim Heer, 35.000 bei der Marineinfanterie und 45.000 Fallschirmjägern zusammen. Die anderen insgesamt 540.000 Truppen verteilen sich auf Luftstreitkräfte, Marine, strategische und zentrale Verbände, die nicht für den Kampfeinsatz am Boden vorgesehen sind. In der Ukraine ist bereits über die Hälfte der russischen Landstreitkräfte im Einsatz. Viele aktive Reserven hat Russland also nicht mehr, denn es muss auch andere Flanken und Hotspots an seinen langen Grenzen im Griff behalten, um dort nicht verwundbar zu sein. Es kann also von dort nicht beliebig viele Kräfte abziehen.

Die ukrainischen Streitkräfte sind anders aufgestellt: Dort kämpfen etwa 300.000 aktive Soldaten, wenn man die Nationalgarde und die Grenztruppen mit etwa 100.000 Soldaten einrechnet. Hinzu kommen bis zu 900.000 Reservisten, die schon einmal gedient haben und nun wieder mobilisiert werden, sowie Freiwillige und bewaffnete Zivilisten, die das Land verteidigen. Das kommt den Ukrainern in den Straßenkämpfen zugute, wo es den Russen an Infanterie mangelt und wo sie versuchen, dies mit der Luftwaffe und Artillerie zu kompensieren. Das führt dann zu großen Zerstörungen in den Städten, worunter die zivile Bevölkerung besonders leidet.

Die Ukraine ist den Russen bei den Bodentruppen also personell überlegen?

Ja, was den Personalumfang vor Ort angeht, schon. Für den Kampf auf offenem Felde mit hohen Reichweiten braucht man allerdings die richtige Ausrüstung, Artillerie, gepanzerte Kräfte und Panzerabwehr- sowie Luftabwehrsysteme. Da sind die Russen besser ausgestattet. Die Ukrainer gehen aber sehr geschickt mit ihren Panzer- und Flugabwehrwaffen um, gehen in kleinen Stoßtrupps vor und bekämpfen Kolonnen, die auf Straßen aufgereiht stehen, wenn sie wegen Spritmangel nicht weiterfahren können. Darin sind die Ukrainer sehr erfolgreich.

Hat die Ukraine dadurch eine realistische Chance, diesen Krieg gegen Russland zu gewinnen?

Der Begriff "gewinnen" ist hier falsch. Für die Ukraine ist es ein Sieg, wenn sie standhalten. Wenn die russische Offensive zum Stillstand kommt oder abgebrochen werden muss, dann ist es für die Verteidiger ein militärischer Sieg. Derzeit setzt man aber noch auf Abnutzung und hofft, dass die andere Seite eher einknickt und die Verluste nicht mehr tragen kann. Daher kann sich derzeit noch keiner zur Aufgabe durchringen. Ich habe aber das Gefühl, dass die höhere Moral und Einsatzbereitschaft bei der Ukraine liegt.

Müssen wir nun erwarten, dass sich beide Seiten weiter bekämpfen und hohe Verluste einfahren, bis einer von beiden einknickt?

Ich befürchte es. Für die Ukraine, die mit dem Rücken zur Wand steht, gibt es gar keine andere Möglichkeit, als ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Die Frage ist, ob die Feuerkraft der russischen Armee dazu führt, dass irgendwann der Druck auf die Ukrainer steigt, weil man zivile Verluste ja nicht beliebig hinnehmen kann. Doch auch der Druck auf Russland steigt: Je mehr tote Soldaten zurückkommen, desto mehr wird deutlich werden, dass es nicht um eine "Spezialoperation" handelt, sondern um einen umfassenden Krieg. Ich glaube, das werden die Russen irgendwann nicht mehr hinnehmen. Wenn dann noch die Sanktionen des Westens wirken, dann könnte es für Putin eng werden.

Mit Wolfgang Richter sprach Vivian Micks

Quelle: ntv.de


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