Der Krieg in der Ukraine scheint nicht nach dem Plan des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu verlaufen. Er hoffte wohl auf einen schnellen Einsatz. Dass er nicht bis in den Frühling hinein mit Truppen in der Ukraine kämpfen wollte, hätte auch einen guten Grund. Schließlich hat die Jahreszeit in der Geschichte viele militärische Operationen zum Stillstand gebracht. Die mächtige Rasputiza hat schon oft Geschichte geschrieben - und könnte auch Putins Armee ausbremsen.
Derzeit entwickelt sich über der Ukraine ein Hochdrucksystem, das eine Passage für sehr kalte arktische Luft nach Nordasien und Osteuropa öffnet. "Nachdem es in den ersten Wochen des Krieges noch einmal extremen Frost mit Tiefstwerten unter -10 Grad und Dauerfrost am Tage gab, hat sich inzwischen mildere Luft und teils massives Tauwetter durchgesetzt", sagt ntv-Meteorologe Björn Alexander.
Für die kommende Woche sagt der Wetterexperte einen deutlichen Temperatursprung voraus: "Die Temperaturen erreichen beispielsweise in Kiew in den nächsten Tagen fast durchweg deutlich über 10 Grad." Die steigenden Temperaturen bringen auch kräftige Regenschauer mit sich. So sehen die Wettercomputer 30 bis 50 Liter pro Quadratmeter, erklärt Alexander. Vor allem für den Norden der Ukraine werden starke Niederschläge vorhergesagt. In zwei Wochen wird die nasse Wetterlage dann auch auf den Süden übergreifen. "Damit dürften die Böden zusätzlich aufgeweicht und das Gelände nochmals schwerer passierbar werden", sagt er.
Die Rasputiza
Diese Wetterentwicklung ist in der Ukraine zu dieser Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. Sie ist so einprägsam, dass sie auf Russisch sogar einen eigenen Namen hat: die Rasputiza. Übersetzt heißt das "Zeit der Wegelosigkeit". "Hintergrund ist, dass mit dem Ende des Winters in der Ukraine, Weißrussland und Russland Tauwetter einsetzt", sagt Alexander. "Der Schnee schmilzt, die Böden tauen auf und damit wird der Boden auf hunderten von Quadratkilometern aufgeweicht und schlammig - es gibt keine Wege mehr." Deshalb wird diese Zeit auch als "Schlammzeit" genannt. Die Zeit kann durchaus vier Wochen oder länger dauern, erklärt Alexander.
Im Internet kursieren bereits Bilder von russischen Panzern, die stecken bleiben und von ukrainischen Bauern mit Traktoren abgeschleppt werden. "Es gab bereits viele Situationen, in denen russische Panzer und andere Fahrzeuge über die Felder fuhren und stecken blieben. Die Soldaten waren gezwungen, sie zurückzulassen und zu Fuß weiterzugehen", sagt der ukrainische Militäranalyst Mykola Beleskow der AFP. "Dieses Problem wird sich noch verschärfen."
Historisch gesehen ist es nicht das erste Mal, dass die Rasputiza eine militärische Operation beeinträchtigt. Napoleons Truppen hielt der Matsch im Herbst 1812 bei ihrem Rückzug aus Russland so lange auf, dass sie vom strengen Winter eingeholt wurden. Auch der Vormarsch der deutschen Wehrmacht Richtung Osten im Zweiten Weltkrieg wurde von der Schlammperiode gebremst. In umgekehrter Richtung verlangsamte die Rasputiza die sowjetische Gegenoffensive 1943.
Nicht vergleichbar mit 1943
Das sei aber nicht ganz vergleichbar mit der heutigen Situation, so der Russland- und Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR) kürzlich im Interview mit ntv.de. Russische Truppen müssten heute nicht mehr zwangsläufig durch den Schlamm ziehen. Es gebe "genügend befestigte Asphaltstraßen, das ist nicht mit dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar", sagt Gressel. "Daher spielt diese Schlammzeit keine so große Rolle."
Aber der Weg entlang einer Straße bringt andere Probleme mit sich. So konnte die ukrainische Gegenoffensive in den letzten Tagen rund um Kiew erhebliche Fortschritte machen, weil die russische Armee wegen der dichten Wälder im Norden des Landes auf den Straßen bleiben muss. Dadurch sind die Truppen für Angriffe anfällig und können nicht ausweichen. Die Ukraine nutzte dies zu ihrem Vorteil. "Sie haben die russischen Truppen offenbar frontal und im Rücken angegriffen und dabei offenbar teilweise auch eingekesselt", sagt dazu Günter Hofbauer, Generalmajor des österreichischen Bundesheeres, im Interview mit ntv.de.
Im Süden hingegen ist die Gegenoffensive der Ukraine in den letzten Tagen weniger erfolgreich verlaufen. Die offene Landschaft ist für gepanzerte Fahrzeuge besser geeignet - sie müssen sich dort nicht unbedingt an die Straßen halten. Das ist besser für die Russen mit ihren riesigen Konvois. Aber das könnte sich mit der Rasputiza ändern. Wenn der Schlamm im Süden die Russen auf die Straßen zwingt, könnte die Ukraine dort die gleiche Taktik anwenden wie im Norden.
Die Luftwaffe kann nicht mehr fliegen
Darüber hinaus gibt es ein weiteres Problem für die russischen Truppen. Denn wo es regnet, muss es auch Wolken geben. Anders als die ukrainische Armee verfügt die russische Armee über eine starke Luftwaffe. Sie arbeiten viel mit Luftunterstützung für ihre Bodentruppen. Und das, so Hofbauer, sei in der modernen Kriegsführung extrem wichtig: "Die Bodentruppen sind ein gefundenes Fressen für feindliche Luftstreitkräfte, wenn der Luftraum nicht freigehalten werden kann."
Die von Deutschland und der NATO gelieferten Stinger-Luftabwehrraketen sind für russische Piloten bereits sehr gefährlich. Ein Vertreter des Pentagon sagte erst neulich, dass die vorhandenen Luftabwehrsysteme in der Ukraine "sehr effektiv" seien. Das sei ein Grund, "warum wir ein ziemlich risikoscheues Verhalten einiger russischer Piloten beobachten". Wenn Wolken in der Luft hängen, müssen russische Flugzeuge tiefer fliegen als sonst und wären noch leichter angreifbar.
"Das Wetter spielt nicht für Putin", schreibt der Militärhistoriker Cédric Mas vom französischen Institut Action Resilience auf Twitter. Ob die Rasputiza die russische Armee wirklich aufhält, wird sich zeigen. Eines scheint jedoch ziemlich sicher: Die schwindende Moral und die bereits sichtbare Schwächung der russischen Truppen wird sich durch die Rasputiza auf keinen Fall verbessern.
Quelle: ntv.de, mit AFP
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