Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einer Reise in die von schweren Gräueltaten erschütterte Stadt Butscha eingeladen. In dem Kiewer Vorort könnten sich Merkel - ebenso wie der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy - ein Bild von ihrer gescheiterten Russland-Politik der vergangenen Jahre machen, sagte Selenskyj am Sonntagabend in einer Videobotschaft. Im Jahr 2008 hätten die NATO-Staaten, darunter Deutschland, der Ukraine eine Aufnahme in Aussicht gestellt, dann aber aus Rücksicht auf Russland einen Rückzieher gemacht. Merkel war von 2005 bis 2021 Bundeskanzlerin.
"Ich lade Frau Merkel und Herrn Sarkozy ein, Butscha zu besuchen und zu sehen, wozu die Politik der Zugeständnisse an Russland in 14 Jahren geführt hat", sagte Selenskyj. "Sie werden die gefolterten Ukrainer und Ukrainerinnen mit eigenen Augen sehen." Die Bilder aus Butscha, wo nach dem Abzug russischer Truppen zahlreiche Leichen von Bewohnern auf den Straßen gefunden worden waren, sorgten am Sonntag international für Entsetzen.
Vor Kurzem veröffentlichte Satellitenbilder der Firma Maxar zeigen einen 14 Meter langen Graben auf dem Gelände einer Kirche in der ukrainischen Stadt Butscha. Dort wurden nach ukrainischen Angaben die Leichen Hunderter von russischen Truppen getöteter Zivilisten begraben. Die Ukraine macht für das Massaker in Butscha russische Truppen verantwortlich, die die kleine Stadt bis vor kurzem besetzt hatten. Moskau bestreitet das.
Auch Merz kritisiert Fehler der Ära Merkel
Seit Beginn der Invasion Russlands in die Ukraine steht Merkel in der Kritik, da sie den Bau der Gas-Pipeline Nordstream 2 während ihrer Amtszeit als Bundeskanzlerin nicht gestoppt hatte. Ende März prangerte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz jahrelange Fehlentscheidungen deutscher Regierungspolitik im Umgang mit Russland in einem Gastbeitrag in "Der Zeit" an. "Spätestens seit dem Einmarsch in die Ostukraine und der Annexion der Krim vor acht Jahren hätte uns allen, parteiübergreifend, klar sein müssen, was in diesem Land geschieht", schrieb Merz. So sei der Bau der russisch-deutschen Gaspipeline Nord Stream 2 niemals ein "rein privatwirtschaftliches Projekt" gewesen, fuhr Merz fort, der auch Vorsitzender der Unionsfraktion ist. Als solches hatte die Merkel die Pipeline einst bezeichnet.
Der frühere Wirtschaftsberater Merkels, Lars-Hendrik Röller, verteidigte die Russland-Politik der einstigen Kanzlerin sowie die damit einhergehende Energieabhängigkeit Deutschlands. "Es gab einen innenpolitischen Konsens, an dem alle beteiligt waren", sagte er dem "Handelsblatt". "Klimaneutralität bis 2045, raus aus Atom und raus aus der Kohle - dann bleibt nur Gas übrig, zumindest, solange erneuerbare Energien nicht entsprechend zur Verfügung stehen."
Die Bundesregierung habe bei ihrer Energie- und Wirtschaftspolitik gegenüber Russland immer auf Kritik aus dem Ausland gehört, auch bei der umstrittenen Pipeline Nord Stream 2, sagte Röller. Deutschland habe sich deshalb unter anderem für einen neuen Gasvertrag für die Ukraine eingesetzt. "Damit wollten wir sicherstellen, dass Gas weiter durch die Ukraine fließt", sagte Röller.
Selenskyj rechnet mit weiteren Kriegsverbrechen
Merkel selbst verurteilte den russischen Angriff auf die Ukraine. "Dieser Angriffskrieg Russlands markiert eine tiefgreifende Zäsur in der Geschichte Europas nach dem Ende des Kalten Krieges", erklärte Merkel Ende Februar, kurz nach Beginn der Invasion. "Für diesen eklatanten Bruch des Völkerrechts gibt es keinerlei Rechtfertigung, ich verurteile ihn auf das Schärfste."
"Meine Gedanken und meine Solidarität sind in diesen furchtbaren Stunden und Tagen beim ukrainischen Volk und bei der Regierung unter Führung von Präsident (Wolodymyr) Selenskyj", unterstrich Merkel.
In seiner Videobotschaft äußerte Selenskyj die Befürchtung, dass sich noch "schrecklichere Dinge auftun könnten" als das, was bisher über die Verbrechen in der Stadt Butscha bekannt geworden ist. Andere Regionen des Landes stünden noch unter russischer Kontrolle. Dort könnten "noch mehr Tote und Misshandlungen" bekannt werden.
"Sie wussten sehr wohl, welches Übel bevorstand"
"Denn das ist die Natur des russischen Militärs, das in unser Land gekommen ist. Sie sind Unwesen, die nicht wissen, wie sie es anders machen sollen", sagte Selenskyj. Er wolle, dass jede Mutter eines russischen Soldaten die Leichen der getöteten Menschen in Butscha und anderen Städten sehe.
"Was haben sie getan? Warum wurden sie getötet? Was hat ein Mann getan, der mit dem Fahrrad die Straße entlang fuhr?", fragte Selenskyj. "Warum wurden gewöhnliche Zivilisten in einer gewöhnlichen friedlichen Stadt zu Tode gefoltert? Warum wurden Frauen erdrosselt, nachdem sie ihnen die Ohrringe aus den Ohren gerissen hatten? Wie konnten sie Frauen vergewaltigen und sie vor den Augen der Kinder töten? Ihre Körper auch nach ihrem Tod verspotten? Warum haben sie die Körper von Menschen mit Panzern überfahren? Was hat die ukrainische Stadt Butscha Ihrem Russland getan?"
Er sagte auch, dass die Ukraine eigentlich nicht im Ausland nach Waffen hätte fragen müssen. "Alle benötigten Waffen hätte man uns auch so zur Verfügung stellen müssen - ohne Bitten. Denn sie wussten sehr wohl, welches Übel bevorstand und was es mit sich bringen würde."
Quelle: ntv.de, lve/dpa/rts/AFP
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