Von der dark number zur Dunkelziffer
Deutschland behielt von dieser einst so stürmischen Affäre nur ein wichtiges Wort der deutschen Sprache, das Rechte und Linke gleichermaßen schätzen, wenn es ihnen darum geht, Angst zu verbreiten: Dunkelziffer. Erfunden hat es der japanische Jurist Shigema Oba, der 1908 in Erlangen seine Dissertation auf Deutsch verfasste.
In dem Werk mit dem Titel "Unverbesserliche Verbrecher und ihre Behandlung" schreibt Oba, jeder Mann mit praktischer Erfahrung in der Strafverfolgung wisse, dass "nur etwa 30 bis 50 Prozent der benannten Verbrechen an den Tätern durch Strafe gesühnt werden". Der Statistiker nenne, fährt Oba fort, "eine solche Ziffer von Vorkommnissen, welche nicht ans Licht kommen, sondern im Dunkeln bleiben, die Dunkelziffer (dark number) im Gegensatz zur Lichtziffer (light number)".
Oba studierte in München und Erlangen
Damit hatte Oba ein Wort in die Welt gesetzt, das heute Panikmachern gute Dienste leistet: Egal, ob es um die Toten von Fukushima geht, um Vergewaltigungen auf dem Oktoberfest oder um Analphabeten in Deutschland – wenn die bekannten Zahlen enttäuschend niedrig sind, verweisen sie darauf, dass die Dunkelziffer erheblich höher sei. Bereits Mitte der Achtzigerjahre hatte der Schriftsteller Eckhard Henscheid die Agitation mit der Dunkelziffer in seinem legendären sprachkritischen Wörterbuch "Dummdeutsch" verhöhnt: "Will sagen, dass hinter jeder belegbaren Ziffer eine Dunkelziffer lauert, die noch viel schlimmer und außerdem ein Vielfaches der ersten ist." Geholfen hat es nichts.
In der sprachwissenschaftlichen und rechtshistorischen Forschung ist unbestritten, dass Oba den Ausdruck Dunkelziffer geprägt hat. Über seinen Urheber selbst und darüber, was ihn nach Deutschland trieb, weiß man dagegen so gut wie nichts. Recherchen der "Welt" haben jetzt endlich etwas mehr über diesen "kaiserlich japanischen Staatsanwalt" (so fungiert er auf dem Titelblatt seines im Berliner Verlag Hermann Bahr erschienenen Buches) ans Licht gebracht.
Oba wurde am 19. Dezember 1869 in der japanischen Provinz Uzen (heute weitgehend identisch mit der Präfektur Yamagata) geboren. 1891 legt er nach einem Studium in Tokio sein Rechtsanwaltsexamen ab. Karriere machte er allerdings im Staatsdienst, erst als Richter in der Präfektur Akita, in Kobe und Nagoya, schließlich von 1902 an als Staatsanwalt am Bezirksgericht Tokio.
1905 ging er zum Auslandsstudium zunächst nach München, wie japanische Quellen berichten. Man darf annehmen, dass dies im offiziellen Auftrag oder doch zumindest mit Unterstützung höherer Stellen geschah. In der bayerischen Hauptstadt wurde Oba ein Schüler des bedeutenden Strafrechtlers Karl von Birkmeyer, der unter anderem dem Komitee angehörte, das die Strafrechtsreform von 1903 vorbereitete. Seine Dissertation hat Oba aber an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen eingereicht.
Seine dreijährige Abwesenheit hat Oba in Japan nicht geschadet: 1909, ein Jahr nach seiner Rückkehr, wird er Rat im Justizministerium, 1913 Richter am Obersten Gerichtshof in Tokio. Erst dann gibt es einen Karriereknick: Oba tritt als Richter zurück, wird Rechtsanwalt und lässt sich 1915 als Abgeordneter ins Unterhaus wählen, dem er vier Jahre angehört. Bald nachdem seine Wiederwahl gescheitert war, starb er am 30. Dezember 1920 mit knapp 52 Jahren.
Obas Dunkelziffer: Lost in translation
Obas Rücktritt als Richter hängt möglicherweise mit Fraktionskämpfen zwischen der alten und der neuen Schule der japanischen Rechtswissenschaft zusammen, deren Unterschiede für Europäer nicht immer klar zu durchschauen sind und auch nicht unbedingt dem entsprechen, was wir hierzulande mit Begriffen wie "neu" und "alt" verbinden. Japans Strafrechtswissenschaft war zunächst stark von der französischen beeinflusst. Das deutsche Recht wurde erst nach der Jahrhundertwende dank des Einflusses von Asataro Okada (1868-1936) übernommen und verbreitet. Okada hatte 1897 bis 1900 erst in Frankreich, dann bei Franz von Liszt in Halle studiert. Als 1907 das bis heute modifiziert geltende japanische Strafgesetzbuch in Kraft trat, dessen Vorbild das deutsche Strafrecht war, empfanden das die Vertreter der neuen Schule als Sieg.
In Japan hat Oba dann noch weitere grundlegende Bücher geschrieben: Eine besondere und eine allgemeine Strafrechtslehre in jeweils zwei Bänden (1909-1910 und 1912-1917) sowie einen Essay über das Geschworenensystem. Bereits von Deutschland aus schickte er Aufsätze seines Lehrers Birkmeyer sowie des Strafrechtsheoretikers von Liszt übersetzt nach Japan und publizierte sie in dortigen Zeitschriften.
Die größte Ironie der interkulturellen Wortgeburt von Dunkelziffer war, dass Oba lost in translation war, als er den Begriff erfand. Zwar war der junge Staatsanwalt in der Rechtsterminologie perfekt zweisprachig, denn immerhin hatte er 1907 auch noch das brandaktuelle "Strafgesetzbuch für das Kaiserlich Japanische Reich vom 23. 4. 1907" übersetzt (was für ein Pensum für nur drei Jahre Deutschland!). Aber bei der Verdeutschung des englischen dark number unterlief ihm dann doch ein Lapsus: Die korrekte Übersetzung wäre, wie seitdem oft angemerkt worden ist, Dunkelzahl gewesen.
Rätselhaftes Vorbild dark number
Noch rätselhafter ist, woher Oba den englischen Ausdruck überhaupt kannte. Denn dem deutschen Dunkelziffer entspricht in amerikanischen oder britischen Rechtstexten eher der Ausdruck dark figure oder die Formulierung number of unreported cases. Zwar liest man gelegentlich auch den Terminus dark number, doch lässt er sich genauso wie dark figure erst Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von Obas Dissertation belegen und steht auch nicht im "Oxford English Dictionary", welches den Anspruch hat, sämtliche etablierten Wörter der englischen Sprache zu erläutern.
Dass Oba dark-number mit Bindestrich schreibt, was typisch fürs Deutsche, aber untypisch fürs Englische ist, lässt vermuten, er habe das Wort vielleicht eher in einer Vorlesung gehört als gelesen. Ein Restgeheimnis bleibt also bei der Entstehungsgeschichte von Dunkelziffer, das vom juristischen Fachterminus zum politischen Schlagwort wurde.
Quelle : welt.de
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