"Ukrainer haben ein Recht auf Selbstverteidigung"

  06 Mai 2022    Gelesen: 539
"Ukrainer haben ein Recht auf Selbstverteidigung"

In den letzten Tagen haben mehrere Intellektuelle zwei offene Briefe zum Ukrainekrieg verfasst. Beide wollen ein schnelles Ende des Krieges erreichen. Die Wege dahin sind jedoch unterschiedlich. Darüber diskutieren die Gäste in der Talkshow Maybrit Illner.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat Post bekommen. In zwei offenen Briefen haben sich Wissenschaftler, Politiker und Kulturschaffende für ein Ende des Ukrainekrieges ausgesprochen. Unterschiedliche Ansichten gibt es darüber, wie das zu erreichen ist. In der ZDF-Sendung Maybrit Illner haben am Donnerstagabend zwei Mitunterzeichner der beiden Briefe dazu Stellung genommen – in einer sehr spannenden Diskussion, in der am Ende fast so etwas wie Einigkeit herrschte.

Im ersten Brief fordern die 28 Verfasser Bundeskanzler Olaf Scholz auf, keine schweren Waffen an die Ukraine zu liefern. Dieser Schritt erhöht ihrer Ansicht nach die Gefahr eines Atomschlags und eines dritten Weltkrieges. Sie raten der Ukraine, den Kampf gegen die russische Invasion aufzugeben.

Im Gegensatz dazu raten 57 Unterzeichner des zweiten offenen Briefes zur Unterstützung der Ukraine mit schweren Waffen. Nur so könne man dem Vernichtungswillen des russischen Präsidenten Wladimir Putin begegnen. Die einen, deren Brief die Zeitschrift "Emma" veröffentlicht hat, setzen auf Verhandlungen und einen Waffenstillstand. In dem anderen Brief, veröffentlicht auf der Plattform "Change.org", setzen die Verfasser zunächst auf eine militärische Lösung. Dass die Ukraine die Waffen streckt, kommt für sie nicht infrage. Dieser Schritt könne dazu führen, dass der nächste Krieg auf dem Gebiet der NATO stattfinden werde.

Zu den Verfassern des ersten Briefes gehört Wissenschaftsjournalist Rangar Yogeshwar, die in der Ukraine geborene Publizistin Marina Weisband hat den zweiten Brief unterzeichnet. Beide sind am Donnerstag neben weiteren Diskussionsteilnehmern bei Maybrit Illner zu Gast.

"Briefe nicht als Gegensätze sehen"

"Unser Brief drängt darauf, dass wir die Debatte um den Konflikt erweitern", sagt Publizist Yogeshwar über den "Emma"-Brief. Man sei in den letzten Monaten immer mehr in militärische Rhetorik hineingeraten, rede nur noch über Waffenlieferungen. Die Diskussion über Verhandlungen sei völlig in den Hintergrund gerückt. Das latente Risiko einer Ausweitung des Krieges sei vorhanden, wenn man immer mehr schwere Waffen an die Ukraine liefere, so Yogeshwar. "Fachleute sagen, wir befänden uns jetzt in der gefährlichsten Krise einer nuklearen Eskalation seit der Kubakrise", so der Wissenschaftler.

Die beiden offenen Briefe mag er nicht als Gegensätze sehen. Sie hätten beide die Intention, schnell zu einem Frieden zu kommen. Auch er und seine Mitstreiter wünschten sich einen Sieg der Ukraine, doch das sei unwahrscheinlich. In der neueren Zeit sei kein Krieg ohne ein Agreement zu Ende gegangen. "Darum müssen wir auf Verhandlungen setzen und dürfen uns nicht davon ablenken lassen, dass Russland oder die Ukraine im Moment Probleme machen", sagt Yogeshwar.

"Beide Briefe haben dasselbe Ziel, beide Briefe möchten Frieden für die Ukraine", bestätigt auch Weisband. Allerdings ist sie überzeugt: "Wenn wir sagen: Wir liefern der Ukraine keine schweren Waffen, sie darf nicht die Möglichkeit haben, den Feind von ihrem Territorium zu vertreiben, dann gibt es keinen Frieden in der Ukraine. Wenn sie kapituliert und irgendwelche Gebiete an Russland abtritt, dann sind das die Gebiete, in denen Menschen misshandelt, vergewaltigt und ermordet werden. Das ist Diktatur. Und Diktatur ist kein Frieden."

"Ukrainer werden nicht kapitulieren"

Die Politikwissenschaftlerin und Friedensforscherin Nicole Deitelhoff findet die Idee der offenen Briefe grundsätzlich falsch. "Das ist ein unglaublich schlechtes Zeichen für den Zustand der Debatte über die Unterstützung der Ukraine in Deutschland, dass wir uns jetzt mit offenen Briefen bekriegen und nicht mit Argumenten", sagt sie. Das Ziel könne kein militärischer Sieg der Ukraine sein, Ziel müsse sein, dass die Ukraine den Krieg nicht verliere. Waffenlieferungen seien kein Zweck an sich, aber sie verfolgten einen Zweck, gemeinsam mit Wirtschaftssanktionen den russischen Präsidenten an den Verhandlungstisch zu zwingen, macht Deitelhoff klar.

Genau das ist es, was Weisband erreichen will. Sie sagt: "Die Ukrainer haben ein Recht auf Selbstverteidigung, und sie werden nicht kapitulieren." Wer von der Ukraine Zugeständnisse verlange, der müsse sagen, wie viele Städte sie abgeben solle.

Die Antwort bleibt Yogeshwar schuldig. Er kann die Bedenken Marina Weisbands verstehen, hat aber auch Angst davor, dass Deutschland in eine Ausweitung des Krieges hineingedrängt werden könne. "Wir müssen begreifen: Wir lösen eine Dynamik aus, die irgendwann nicht mehr kontrollierbar ist." Dieser Krieg sei aus der Zeit gefallen, weil er von einem System geführt werde, das im 19. Oder 20. Jahrhundert lebe. "Aber wir leben im 21. Jahrhundert, und da brauchen wir Ressourcen für ganz andere Herausforderungen, denken wir an den Klimawandel. Umso wichtiger ist es, dass wir immer wieder Instrumentarien einfordern, die weggehen von der militärischen Eskalation", fordert Yogeshwar.

Das sieht Weisband genauso: "Es ist ein Konflikt der alten Zeit gegen die neue", sagt sie. Diktatoren wie Putin fürchteten nichts mehr als demokratische Gesellschaften, Energieunabhängigkeit und den generellen Wandel von Werten und Normen. Deshalb sagt sie: "Wir müssen heute zeigen: Wer einen Angriffskrieg führt im 20.-Jahrhundert-Style, der fällt so mächtig und so stark auf die Nase, dass er es niemals wieder versuchen wird. Und darum müssen wir Waffen liefern, Waffen, die Putin noch mehr fürchtet als schwere Waffen, nämlich Solidarität und Hoffnung. Und wir müssen als demokratische Länder zusammenstehen, Klimaschutz betreiben, in Bildung und neue Energien investieren, denn davon geht den ganzen Diktatoren der Arsch weit mehr auf Grundeis."

Quelle: ntv.de


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