Seit Jahrhunderten kämpft die Ukraine für ihre Eigenständigkeit, ihre Identität, ihre eigene Geschichte, Sprache, Wissenschaft, Künste und Kultur. In der jüngsten Zeit hätte spätestens 2004 jeder, der es wollte, sehen können, was den Menschen in der Ukraine unsere gemeinsamen europäischen Grundwerte und ihre eigene Kultur wert sind. Besonders in Deutschland haben oder wollten viele es nicht sehen. Und die, die es gesehen haben, waren offensichtlich zu leise. Jetzt sehen wir täglich, wie Russland versucht, all das, was die Ukraine ausmacht, zu vernichten. Es ist ein Krieg, der nicht nur mit Waffen gewonnen werden wird, auch wenn sie unerlässlich sind.
Es ist kein Zufall, dass eines der ersten Ziele russischer Luftangriffe auf Mariupol dem städtischen Schauspielhaus galt, in dem sich hunderte Menschen hatten in Sicherheit bringen wollen und viele von ihnen getötet wurden. Es ist kein Zufall, dass die russische Armee am selben Abend die Philharmonie von Mariupol bombardiert hat. Das hat Strategie. Es ist der Versuch, die Grundlage zu "Umerziehung" und Unterwerfung zu schaffen, die ukrainische Kultur zu zerstören und die ukrainische Identität vergessen machen zu wollen. Das zeigen auch die gestrigen Berichte über die Zerstörung des Museums Grigory Skovoroda, einem ukrainischen und russischen Dichter und Philosophen.
Musik ist Heimat, Identität, Schmerz. Es bewegt mich, wie stolz und mutig beispielsweise die Musikerinnen und Musiker des Kyiv Symphony Orchestra gerade jetzt auf Europatournee gegangen sind. Auch das ist kein Zufall. Sie kämpfen mit ihrer Musik für ihr Land, für ihre Identität. Jeder Ton schreit: Seht uns! Helft uns!
"Nie wieder" ist ein Auftrag
Deutsche Nazis sind verantwortlich für Massaker an Menschen in der Ukraine. Für die Massaker von Kamjanez-Podilskyj, in Berdytschiw, in Babyn Jar. Es war ein nationalsozialistischer Vernichtungskrieg gegen jüdische Menschen in Osteuropa. "Nie wieder" dürfen nicht nur zwei Worte sein. "Nie wieder" ist ein Auftrag.
Doch kommt Europa, kommt Deutschland diesem Auftrag nach? Die orangene Revolution 2004 in der Ukraine und der Euromaidan 2014 führten offensichtlich nicht dazu, dass sich Deutschland in seinen Beziehungen zu Russland unmissverständlich und klar positioniert hätte. Im Gegenteil verstrickte sich unser Land immer tiefer in seine ökonomischen Interessen und damit in politische Abhängigkeiten von Russland, die sich jetzt rächen. Es ist Zeit, in Vertrauensaufbau, in vertrauensvolle Beziehungen mit der Ukraine zu investieren - in eine klare Wertepartnerschaft. Das ist jetzt Deutschlands Bringschuld.
Nicht Wladimir Putin definiert Europa
Deutschland steht in einer besonderen Verantwortung, das Vertrauen der Ukraine in unser Land herzustellen und zu sichern. Die Ukraine muss auf die deutsche Solidarität setzen können. Ohne Wenn und Aber. Die Unterstützung für die Ukraine ist nicht nur eine politische, wirtschaftliche und historische Verpflichtung für uns in Europa. Es ist auch eine moralische. Schauen wir wieder nur halb hin oder stehen wir zu unseren Werten, erkennen wir an, dass die Ukraine nicht nur sich selbst verteidigt, sondern auch uns in und als Europa? Wenn wir die ukrainische Identität schützen, schützen wir auch die unsere.
Ich verstehe eine ehrliche, pazifistische Grundhaltung, die sich für Gewaltfreiheit einsetzt. Ich komme selbst aus der kirchlichen DDR-Friedensbewegung. Und selbstverständlich gilt das Primat der Verhandlungen. Doch eines darf nicht übersehen werden: Die Ukraine will verhandeln. Die Ukrainer sind dabei jedoch zurecht nicht bereit, ihr Land, ihre Identität und sich selbst aufzugeben. Nicht Wladimir Putin definiert Europa. Wir tun es selbst und die, die sich zu Europas Werten bekennen.
Wer in dieser Zeit vollumfängliche Hilfe für die Ukraine infrage stellt, als Militarismus brandmarkt, muss mit dem Vorwurf der Lebenslüge leben: Dann waren all die Rufe der Vergangenheit nach Frieden, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat nur Worte und eben kein Handlungsauftrag. Dem fühle ich mich mit vielen anderen jedoch verpflichtet. Auch aus der Erfahrung der osteuropäischen Revolutionen.
EU-Kandidatenstatus, Sicherheitsgarantien und Wiederaufbau
Daraus folgt neben notwendigen Waffenlieferungen und verschärften Sanktionen, erstens: Die Ukraine gehört zur europäischen Familie. Die deutsche Bundesregierung sollte helfen, dass sie die formalen Kriterien für den EU-Beitritt erfüllen kann. Gerade weil dieser Prozess dauern wird, sollte die Ukraine den Kandidatenstatus erhalten.
Zweitens: Es ist so klug wie realistisch von Wolodymyr Selenskyi, dass er nicht mehr den NATO-Beitritt für sein Land fordert. Das darf uns aber nicht aus dem Schutzauftrag entlassen. Wenigstens einer Garantie der Unterstützung wie derzeit muss sich die Ukraine auch in Zukunft sicher sein können.
Drittens: Wir sollten jetzt schon gemeinsam an den Wiederaufbau denken. Auch hier kann Deutschland Vertrauensbildung leisten, indem es die Zukunft der Ukraine als eigenständige Wirtschaftskraft mitsichert. Indem es ausreichend Mittel für die Behebung der riesigen Schäden und die zerstörte Infrastruktur bereitstellt. Nicht nur kritische Infrastruktur wie Atommeiler sind betroffen, auch die zivile Infrastruktur, zum Beispiel Schulen oder Krankenhäuser, wird von der russischen Armee gezielt unter Druck gesetzt. Auch im Bereich der Energieversorgung kann Deutschland einen wichtigen Beitrag für eine unabhängige Energieversorgung der Ukraine in der Zukunft leisten. Finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau hilft der ukrainischen Bevölkerung auf direktem Wege.
EU erweitern, um den Frieden zu sichern
Viertens: Wir garantieren das in unseren Kräften Stehende zu tun, um die ukrainische Kultur, Sprache und Identität zu erhalten. Mit Lehrstühlen für ukrainische Sprache und Kultur in unserem Land, mit Hilfen für Künstlerinnen und Künstler, mit Unterstützung beim Wiederaufbau von Theatern und Bibliotheken und zerbombten Konzertsälen. Mit der Unterstützung für Unterricht auch in ukrainischer Sprache und Lehrplänen für geflohene Kinder neben der Teilhabe in unseren Schulen.
Fünftens: Wir haben den Blick über die Ukraine hinaus zu weiten. In Rumänien, das ich dieser Tage besucht habe, geht die Sorge um, dass Putin als nächstes nach Moldau greift. Es ist gut, dass Außenministerin Annalena Baerbock sehr früh, die Nachbarrepublik besucht und Hilfe angeboten hat. Moldau hat mit dem offiziellen Antrag zum EU-Beitritt im März für ein europäisches Momentum gesorgt. Gerade in Bezug auf die Bekämpfung der grassierenden Korruption müssen natürlich weitere Schritte folgen. Doch für mich ist klar: Moldau braucht - wie Georgien - eine ehrliche europäische Perspektive. Das gilt auch für den Westbalkan.
Krieg in Europa undenkbar machen. Diese politische Vision formte Robert Schuman vor 72 Jahren. Der kommende Europatag erinnert uns an die mutigen Anfänge dessen, was wir heute Europäische Union nennen. Doch er mahnt auch: Alles dafür zu tun, um für Frieden in Europa zu sorgen. Freiheit und Demokratie sind und bleiben Voraussetzung für eine stabile, dauerhafte Lebens- und Friedensordnung. Das Eintreten für diese Werte ist daher Aufgabe einer nachhaltigen Friedenspolitik, die ihren Namen verdient.
Quelle: ntv.de, Ein Gastbeitrag von Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags und Abgeordnete von Bündnis90/DieGrünen
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