Gegen kein anderes Land wurden jemals so schwere Sanktionen verhängt wie gegen Russland. Devisen wurden beschlagnahmt, Banken und Unternehmen von der internationalen Wirtschaft ausgeschlossen, Lieferungen wichtiger Technologien verboten und die Konten von Kriegstreibern und Oligarchen zum Teil eingefroren. Dennoch feuert Russland weiter unaufhörlich Raketen auf ukrainische Städte, das Land scheint die westlichen Strafen besser wegzustecken als gedacht.
"Russlands Kriegskasse hält länger, als der Westen denkt", hat Militärökonom Marcus Keupp schon im April im Interview mit ntv gewarnt. Unter anderem, weil der Krieg bis jetzt wie im tiefsten 20. Jahrhundert stattfinde, mit relativ simplen mechanisierten Systemen. Das könne Russland sich leisten.
Auch russische Ökonomen haben keinerlei Bedenken, dass Russland das Geld ausgehen könnte. Das Land habe die Mittel, um seine "militärische Spezialoperation" noch mindestens zwei Jahre lang fortsetzen zu können", haben sie der unabhängigen russischen Nachrichtenseite "The Bell" anonym mitgeteilt. Das Geld ist da, die einzige Frage sei: "Wie viel sind die Menschen bereit, auszuhalten?"
Ein Drittel der Truppen verloren
Aber möglicherweise sind nicht nur die russischen Kriegskassen voller als gedacht, sondern auch die Verluste höher als erwartet. Am Wochenende hat das britische Verteidigungsministerium ein vernichtendes Urteil über den russischen Angriff gefällt: Russland habe wahrscheinlich rund ein Drittel der Bodentruppen verloren, die in die Ukraine geschickt wurde, heißt es in einem Geheimdienst-Update. Schon Anfang des Monates hieß es, dass Abnutzung und Verschleiß teilweise so groß sei, dass es Jahre dauern könnte, die ursprüngliche Kampfstärke wiederherzustellen.
Eine Einschätzung, die sich mit Aussagen der amerikanischen Handelsministerin deckt. Bei einer Anhörung im US-Senat hat Gina Raimondo vergangene Woche jedenfalls bemerkenswertes über das russische Kriegsgerät gesagt. "Uns liegen Berichte vor, dass Ukrainer russische Militärausrüstung im Kampfgebiet finden, die mit Halbleitern aus Geschirrspülern und Kühlschränken gefüllt ist", wird sie in der "Washington Post" zitiert.
Halbleiter-Ausfuhr bricht ein
Der russischen Rüstungsindustrie scheinen Bau- und Ersatzteile auszugehen - aufgrund der westlichen Sanktionen, behauptet die US-Ministerin. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hatten die USA zum ersten Mal Exportkontrollen für wichtige Technologien gegen ein anderes Land verhängt. Die Ausfuhr von Halbleitern und anderen wichtigen Bauteilen sei dadurch um fast 70 Prozent eingebrochen, sagte Raimondo vor dem US-Senat.
Mindestens zwei russische Panzerfabriken sollen ihre Produktion wegen der Nachschubprobleme bereits eingestellt haben. Auch Awtowas kündigte vergangene Woche an, dass es seine Fabriken erneut für eine Woche schließen müsse, weil Bauteile aus Europa fehlten. Seit Kriegsbeginn ein Dauerzustand beim größten russischen Autobauer.
Viele Raketen "verbrannt"
Aber das Problem scheint nicht nur die russische Automobil- und Panzerindustrie einzuschränken, sondern auch die Hersteller von Raketen, Bomben und Marschflugkörpern. Denn auch für moderne Lenkwaffen werden Bauteile wie Chips benötigt, damit sie zuverlässig ihr Ziel finden. Die Vorräte dieser Waffen aber schmelzen dahin, wie Beamte des US-Verteidigungsministeriums immer wieder in Gesprächen mit Journalisten behaupten. Die russische Armee habe bei ihren Luftangriffen in der Ukraine viele präzisionsgelenkte Raketen "verbrannt", sagen sie. Deswegen müsse sie immer häufiger ältere, sogenannte "dumme Bomben" einsetzen - zum Beispiel in Mariupol, wo Russland seit vielen Wochen erfolglos das Stahlwerk bombardiert, in dem sich ukrainische Kämpfer verschanzt haben.
Unbestätigten Berichten zufolge ist von den Produktionsproblemen unter anderem der Rüstungsbetrieb Uljanowsk in der gleichnamigen Großstadt an der Wolga betroffen. Dort werden seit den 1960er Jahren Flugabwehrraketen produziert, die feindliche Kampfflugzeuge und Raketen abfangen können. Derzeit aber stehen viele Bänder still, wenn man den eigenen Mitarbeitern glauben darf. Laut deren Aussagen stammen vor allem elektronische Bauteile in der Fabrik "so gut wie nie aus Russland". Die allermeisten sollen stattdessen aus Deutschland kommen. Seit Kriegsbeginn werden die aber wegen der Sanktionen nicht mehr geliefert.
Industrie "rostet vor sich hin"
Ein Bericht, den der frühere Weltbank-Ökonom Branko Milanovic nicht bestätigen, aber erklären kann: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat Russland sich wirtschaftlich vor allem auf seine natürlichen Rohstoffe und die Landwirtschaft konzentriert. Erdöl, Gas, Weizen und Getreide - das hat Russland, das kann Russland. Aber Industrie und Technologie? Das roste seit 30 Jahren vor sich hin, schreibt Milanovic in seinem Blog. "Fast alles, was fortschrittlich ist, hängt von westlicher Technologie ab."
So sieht es auch Alena Epifanova. Die Berliner Politologin untersucht für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) die russische Internet- und Technologiepolitik. Der Kreml habe in den vergangenen Jahren viel Geld in Online-Schranken und Internetzensur investiert, hat sie im März im ntv-Podcast "Wieder was gelernt" erklärt. Die Industrie, die wichtige Bauteile für moderne Produkte liefere, sei aber nicht mitgedacht worden: "Russland ist von ausländischen Schlüsseltechnologien abhängig", sagt sie - und schätzt, dass es etwa 30 Jahre dauern würde, den Rückstand aufzuholen.
Schmuggel über Kasachstan
Ein Hindernis, das inzwischen auch der russischen Führung bewusst zu sein scheint. Anfang Mai berichtete die Nationale Nachrichtenagentur der Ukraine (Ukrinform), dass Russland in den Partnerstaaten der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) neue Produktionslinien für wichtige, auch militärische Bauteile aufbauen wolle, die durch die westlichen Sanktionen fehlten.
Gleichzeitig soll der Rüstungsbetrieb Uljanowsk versuchen, die dringend benötigen deutschen Komponenten für seine Raketen über den Umweg Kasachstan ins Land zu schmuggeln. Bisherigen, unbestätigten Berichten zufolge nicht erfolgreich, weil die Produktionskosten durch den neuen Lieferweg "erheblich steigen und das verfügbare Budget sprengen würden", wie es heißt.
Das Fazit ist eindeutig - zumindest in den Augen westlicher Kriegsbeobachter: Das russische Militär ist in jeder Hinsicht deutlich schwächer als es vor der Ukraine-Invasion war, hat das britische Verteidigungsministerium zuletzt kühl in einem weiteren Geheimdienst-Update analysiert. Durch die Sanktionen würden die Probleme verschärft. Unabhängig vom Kriegsausgang gelte: "Die russische Fähigkeit, Streitkräfte aufzustellen und zu entsenden, wird dauerhaft beeinträchtigt."
Quelle: ntv.de
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