Nach der Einnahme der Zwillingsstädte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk, den letzten bedeutenden Zentren des ukrainischen Regierungsbezirks Luhansk, hat Russland und militärische Führung in Moskau eine "operative Pause" eingelegt. Das bedeutet keinesfalls die Einstellung der Kämpfe: Mit Beschuss Richtung Bachmut und Slowjansk versuchen die Russen, die Grundsteine für einen Angriff im ukrainisch-kontrollierten Teil des benachbarten Bezirks Donezk zu legen.
Dennoch hat die Intensität der Kämpfe an der Frontlinie nachgelassen. In den teilweise von Russland besetzten südukrainischen Bezirken Cherson und Saporischschja versuchen die Ukrainer dagegen, langsam die Stellungen für den vom Verteidigungsminister Olexij Resnikow angedeuteten größeren Gegenangriff zu nehmen. Gleichzeitig zahlen sich die Lieferungen der US-amerikanischen Mehrfachraketenwerfer HIMARS aus: Täglich gehen Munitionsdepots der Russen auf dem besetzten Gebiet in die Luft, was die Logistik der russischen Armee erschwert.
"Selbstverständlich sind Lyssytschansk und Sjewjerodonezk Verluste für die Ukraine, aber auch keine Tragödie", sagt Olexij Melnyk, Oberstleutnant a.D. der ukrainischen Armee und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit des Kiewer Thinktanks Zentr Rasumkowa. "Man kann jedoch auch nicht sagen, dass die Russen dort viel erreicht haben. Dort ist verbrannte Erde, die symbolische Bedeutung der Besetzung des absoluten Großteils des Bezirks Luhansk ist viel größer als die faktische." Die Ukrainer hätten immerhin eine Umzingelung wie in Mariupol verhindert und somit Teile der kampfbereiten Truppen gerettet. Die Russen haben laut Melnyk enorme Verluste erlitten und mussten vor allem deswegen die Intensität der Kämpfe herunterfahren.
Ankündigung der Offensive ist "interessanter Ansatz"
"Die russische Armee hat nach einer langen Schlacht dort Erfolge erzielt, weil sie ihre Feuerkraft massiv konzentrierte und zur traditionellen Taktik mit großem Einsatz der Artillerie und Luftwaffe zurückgekehrt ist. De facto haben sie genau das gemacht, was sie etwa in Tschetschenien gemacht haben", erklärt der prominente ukrainische Militärexperte weiter. "Jedenfalls zogen sich die Ukrainer auf gut vorbereitete Verteidigungslinien zurück, und es wird für die Russen enorm schwer, mit ihren Verlusten Erfolge im Bezirk Donezk zu erreichen."
Hinzu kommt, dass das erklärte politische Ziel Russlands, den gesamten Donbass zu besetzen, eben zu dieser Konzentration der Kräfte dort führt. Dadurch bekommen Ukrainer Möglichkeiten zu Gegenoffensiven im Süden oder im ebenfalls teils besetzten Gebiet Charkiw nördlich des Donbass.
Melnyk hält es für einen "interessanten Ansatz", dass die Gegenoffensive in den Bezirken Cherson und Saporischschja quasi offen angekündigt wird, etwa durch die ukrainische Vizepremierministerin Iryna Wereschtschuk, die die lokale Bevölkerung dazu aufgerufen hat, diese Gebiete zu verlassen. "Normalerweise werden Angriffsoperationen nicht angekündigt. Hier sehen wir jedoch wohl, dass die ukrainische Regierung die eigenen Bürger gezielt warnen und schützen will", sagt Melnyk.
Eine Million Soldaten "etwas übertrieben"
Oleksandr Mussijenko, Chef des ukrainischen Zentrums für militärrechtliche Studien, der die Aussagen des Kiewer Verteidigungsministers über eine "Millionenarmee" für "etwas übertrieben" hält, hat die Statements von Olexij Resnikow in der britischen "Times" anders wahrgenommen: "Das war eher die Ankündigung, dass Präsident Selenskyj befohlen hat, entsprechende Pläne einer Gegenoffensive zu erarbeiten. Das ist völlig normal, doch die Details dieser Pläne müssen natürlich geheim bleiben."
"Ich glaube, es ist eine realistische Aufgabe, die grundsätzliche Situation der Front bis zum Herbst zu stabilisieren. Ich bin optimistisch, dass das nach der Umgruppierung der Russen auch im Bezirk Donezk passieren kann", betont Mussijenko. Danach sei der Übergang zu einer Gegenoffensive im Süden realistisch. Dafür seien jedoch weitere westliche Waffenlieferungen dringend notwendig: "Wir sehen gerade, wie die Mehrfachraketenwerfer HIMARS wirken", meint der Experte. "Die systematische Zerstörung der russischen Munitionsdepots ist ein großes logistisches Problem für die Russen, mit dem sie in der Form wohl nicht gerechnet haben."
Es ist nicht ganz klar, wie viele westliche Mehrfachraketenwerfer bereits an der Front im Einsatz sind, zugesagt wurden jedoch etwas mehr als 20 - darunter von Deutschland drei MARS II-Systeme. "Wir müssen schauen, wann sie alle wirklich ankommen", sagt Mussijenko. "Das ist nicht schlecht, aber natürlich zu wenig. Ich bin hier aber optimistischer als einige, die sagen, dass wir 100 oder mehr solcher Systeme brauchen. Wenn wir 50 haben, wäre das schon sehr gut."
"Friedensinitiativen würde Putin als Schwäche ansehen"
Man müsse auch verstehen, dass die westlichen Bestände nicht unendlich sind. "Ich teile nicht die alarmistische Meinung, dass viel zu wenig Hilfe geschickt wird. Vieles entwickelt sich in die richtige Richtung. Nachdem das Thema der Mehrfachraketenwerfer geschlossen ist, muss man aber über Ausstattung mit Raketen größerer Reichweite reden - die bisherigen sind effektiv, können aber nur Ziele im Radius von 80 Kilometer erreichen." Es gebe jedoch auch Raketen mit Reichweite von 150 und 300 Kilometer.
"Man sollte aber auch über die Lieferung von Kampfflugzeugen sprechen, ob sowjetischer oder westlicher Bauart. Die Mischung aus Mehrraketenwerfern und Kampfflugzeugen würde uns wirklich gute Karten geben", glaubt Mussijenko, der zugibt, dass der Krieg noch sehr lange dauern könnte: "Die Rückkehr zum Status Quo vom 23. Februar ist das objektive Ziel. Die Kräfte der Russen haben ja auch ihre Grenzen. Doch der Stellungskrieg nach der aktiven Phase, die vielleicht doch noch in diesem Jahr enden könnte, kann an vielen Stellen noch recht lange dauern."
Umso wichtiger seien die Waffenlieferungen, sagt auch Olexij Melnyk vom Zentr Rasumkowa: "Die Stimmen, auch aus Deutschland, mit Forderungen zur Einstellung der militärischen Hilfe gerade in dieser Phase, wenn die Ukraine sich auf einige Gegenoffensiven vorbereitet, sind fatal und schädlich."
"Wenn die deutschen Intellektuellen wirklich Intellektuelle sind, dann müssen sie verstehen: Den Hauptgrund der heutigen schweren Situation - die vollkommen grundlose russische Aggression - kann man ohne Waffen und nur mit irgendwelchen Friedensinitiativen sowie Sanktionen nicht beseitigen", unterstreicht der Militärexperte Oleksandr Mussijenko unter Anspielung auf die offenen Briefe. "Es ist vollkommen offensichtlich, dass Putin dies nur als Schwäche betrachten würde."
Quelle: ntv.de
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