Abele verwandelt Horrormoment in Tränen des Glücks

  17 Auqust 2022    Gelesen: 863
  Abele verwandelt Horrormoment in Tränen des Glücks

Seinen letzten Zehnkampf möchte Arthur Abele einfach genießen. Doch der zweite Tag der Leichtathletik-EM in München könnte für den Titelverteidiger nicht schlimmer starten. Weinend zieht sich der 36-Jährige zurück, bekommt eine zweite Chance und ist am Ende einfach nur überglücklich.

Arthur Abele stand einfach nur da und wusste nicht, wohin mit seinen Emotionen. Überwältigt vom Applaus der rund 40.000 Zuschauenden im Münchner Olympiastadion stützte er am späten Abend die Hände auf die Knie, um zuerst ein paar Mal tief durchzuatmen und dann doch den Freudentränen ihren Lauf zu lassen. Ein Moment, der rund 12 Stunden zuvor noch unmöglich schien, nachdem der zweite Tag des Zehnkampfs bei diesen Leichtathletik-Europameisterschaften für Abele auf die schlimmstmögliche Art und Weise gestartet war.

"Ich habe geweint, weil ich nicht wusste, was los war", sagt der 36-Jährige über seinen ganz persönlichen Horrormoment am frühen Morgen. Als ihm nämlich bei den 110 Meter Hürden die Rote Karte gezeigt wurde, das international gültige Zeichen für einen folgenschweren, weil disqualifikationswürdigen Verstoß. Fehlstart lautete das Urteil des Kampfgerichts, statt einer Zeit stand neben seinem Namen einfach nur das unmissverständliche Kürzel "DQ" in der Ergebnisliste. Null Punkte in der sechsten Disziplin, das Ende aller Hoffnungen auf einen zufriedenstellenden Abschied, den sich Abele für München vorgenommen hatte.

Es sollte schließlich der letzte große Zehnkampf des Mannes werden, der stets großes Potenzial angedeutet hatte, aber viel zu oft von seinem eigenen Körper gestoppt wurde, statt um Titel und Rekorde zu wetteifern. 2007 qualifizierte er sich als 21-Jähriger erstmals für eine Weltmeisterschaft, wurde dort vielversprechender Neunter. Danach aber begann eine Verletzungsmisere, die ihn im Schnitt nicht einmal einen Zehnkampf pro Saison beenden ließ. Erst 2018 folgte nach Jahren des Immer-Wieder-Zurückkehrens die Erlösung. Europameister, dazu noch in Berlin, vor heimischem Publikum.

Protest erfolgreich: "Du darfst gleich rennen"

Vor München hatte Abele seinen Abschied vom Leistungssport angekündigt, wollte ein letztes Mal auf die große Bühne treten, ein letztes Mal sein Bestes geben - und saß nun eben hinter wie das viel zitierte Häufchen Elend hinter der Werbebande. Dass er hinterher sagen würde, er werde diesen Wettkampf "im Leben nie vergessen" und das auch noch positiv meint, scheint ausgeschlossen. Üblicherweise steigen Zehnkämpfer nach einer solchen Nullnummer aus, weil der Punktverlust so groß ist und deshalb die Chance auf ein respektables Ergebnis so gering.

Abele allerdings macht weiter. "Die Trainer haben mir gesagt", auf keinen Fall aufzugeben, "wir sind dran mit dem Protest, du kriegst vielleicht noch eine Chance." Denn die automatische Fehlstarterkennung misst wie in diesem Fall zwar, dass der 36-Jährige zu früh den Druck vom Startblock löst, nicht aber, warum. Abele und der Deutsche Leichtathletik-Verband argumentieren offenbar, es sei nur eine Gewichtsverlagerung gewesen, kein zu frühes Abdrücken nach vorne, also kein unfairer und deshalb sanktionsbewehrter Vorteil.

Die Erklärung verfängt, dem Protest wird stattgegeben, die Disqualifikation aufgehoben. Allerdings sind die Zehnkämpfer längst weitergezogen zur siebten Disziplin, dem Diskuswerfen. Der schwerste Wechsel, heißt es unter Fachleuten, von der geradlinigen Bewegung über die 1,067 Meter hohen Hürden in die Rotationsbewegung mit der zwei Kilogramm schweren Scheibe. Abele hat gerade seinen ersten Versuch absolviert, als einer der Kampfrichter ihm eine Nachricht übermittelt. "Du darfst gleich rennen", habe er gesagt bekommen, und darauf nur "ja, mhh, klar" geantwortet, wie er selbst mit einem breiten Lächeln berichtet. Die Aussage aber stimmt: Der Protest war erfolgreich, die Disqualifikation ist aufgehoben, Abele bekommt eine zweite Chance über die Hürden. "So rum hatte ich es [den Disziplinwechsel; Anm.d.Red.] auch noch nie, das macht es nicht unbedingt einfacher."

Als die Fans, von denen viele für den Zehnkampf ins Stadion gekommen sind und mit den Athleten von Disziplin zu Disziplin ziehen, bricht lauter Jubel aus. "Dann hat mein Trainer mir die Sprintspikes reingeschmissen", erzählt Abele die einzigartigen Momente spät am Abend nach, "und dann musst du da rüber und loslaufen". Drei Bahnen mit je zehn Hürden werden aufgebaut, der Deutsche aber läuft alleine, die beiden äußeren Hürdenreihen dienen nur der Orientierung.

Ein Abend für die Ewigkeit

Mit dem Startschuss bricht wieder Jubel aus, fast wirkt es, als schiebe alleine der Applaus von den Rängen Abele nach vorn. Die Zeit verkommt zur Nebensache. "Ich hab's dann hinten raus nur noch genossen", sagt der 36-Jährige, der schon spätestens beim Blick auf die Anzeigetafel realisiert, dass die eigenen Bestleistungen früherer Tage mittlerweile unerreichbar sind. Aber "ich wusste, ich kriege meinen Zehnkampf zusammen", ohne die gefürchtete punktlose Lücke.

"Das ist das, was ich wollte zum Abschluss", verrät er anschließend, dass es einfach darum ging, mit einem guten Gefühl abzutreten. Immer wieder ist Abele während der beiden Tage anzumerken, wie nah ihm die Zuneigung des Publikums geht, das ihn immer noch ein bisschen mehr anzufeuern scheint als andere Zehnkämpfer. In der abschließenden Disziplin, den 1500 Metern, bekommt Abele seinen letzten großen Moment dieser zwei Wettkampftage. Auf dem Weg zum Europameistertitel überholt Niklas Kaul seinen Vorgänger auf dem kontinentalen Zehnkampf-Thron, wieder brandet Applaus auf.

"Unfassbar", sagt Abele anschließend über "die Leute", die ihn immer wieder ganz tief berühren. Nach dem Wiederholungslauf über die Hürden stehen ihm die Tränen schon in den Augen, immer wieder ist ihm anzusehen, was er anschließend selbst in Worte fasst: "Da ist man einfach fertig mit der Welt." Dass er am Ende 15. wird und mit 7662 Punkten den angestrebten 8000er klar verfehlt, verkommt vollständig zur Nebensache. Stattdessen erklärt Abele sogar, dass dieser Zehnkampf von München rein emotional den Titel von Berlin 2018 übertreffe.

Das liegt sicherlich auch an den Umständen seines Hürdenlaufs, der sich in die "emotionale Achterbahnfahrt" einfügt, die Abele durchlebt. Vor allem aber an den Fans der Leichtathletik, die dem 36-Jährigen einen gebührenden Abschied bereiten. Am Ende der Ehrenrunde, die die Zehnkämpfer traditionell gemeinsam, versammeln sich die Konkurrenten an der Ziellinie und stellen sich im Spalier auf. Für den Deutschen, der noch ein paar Mal tief durchatmet und dann unter großem Jubel hindurchläuft, ehe es für jeden noch eine Umarmung und ein paar warme Worte gibt. Nach einem Zehnkampf, den Abele völlig zurecht als "absolut unglaublich" zusammenfasst.

Quelle: ntv.de


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