Sechs Monate nach dem Verschwinden von Frau und Tochter spricht Yafet das erste Mal mit dem Journalisten Eric Reidy, der unter anderem für Al Dschasira aus Tunesien und dem Nahen Osten über die Flüchtlingskrise berichtet. Das Gespräch bleibt nicht ohne Folgen. Reidy versucht auf eigene Faust, das Verschwinden des "Geisterschiffes" - wie er es nennt - aufzuklären. Doch seine Recherchen werfen auch nach anderthalb Jahren mehr Fragen auf, als dass sie Antworten lieferten. Aber sie werfen ein Licht auf die Kaltblütigkeit der Schlepperbanden.
Einen Tag, bevor das "Geisterschiff" ablegen sollte, telefonierte Yafet mit seiner Frau, sagte ihr, sie solle stark bleiben und auf sich aufpassen. Es war das letzte Mal, dass er von ihr hörte. Schlepper Measho Tesfamariam war es, der zwei Tage später an ihr Telefon ging. Mutter und Tochter hätten Libyen verlassen, behauptete er – und legte auf. Erst eine Woche später ging er wieder ans Telefon. "Er sagte mir, die beiden wären angekommen und beglückwünschte mich. Ich habe ihm geglaubt", erinnert sich Yafet. Monate später sitzt der Schlepper in einem italienischen Gefängnis und wartet auf seinen Prozess.
Schlepper setzen auf Mittelmeer-Route
Was mit dem Schlepperboot und den vielen Menschen an Bord passiert ist, kann - oder will - er nicht beantworten. Er habe lediglich als Kontaktperson gedient und sich damit die eigene Überfahrt nach Europa erkaufen wollen. Dass es nach wie vor keinerlei Hinweise auf das Schicksal der Flüchtlinge gibt, macht laut Reidy auch Experten ratlos. Wenn das Boot gesunken ist, was als wahrscheinlich gilt, müsste es dafür Beweise geben. Berichte von Überlebenden etwa - oder, wenn es keine Überlebenden gibt, Überreste des Bootes, Schwimmwesten, Leichen. Doch nichts dergleichen wurde bisher gefunden.
Seitdem die Balkanroute für Flüchtlinge zur Sackgasse geworden ist, gehen Experten davon aus, dass die gefährlichere Route übers Mittelmeer wieder häufiger genutzt werden wird. Allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres haben sich mehr als 16.000 Migranten auf die gefährliche Überfahrt von Afrika nach Italien gemacht. Das sind etwa 6000 mehr als im selben Zeitraum vor einem Jahr. Immer wieder kentern Boote. Allein Ende März starben etwa 90 Menschen nach dem Untergang eines Bootes vor der libyschen Küste - 32 konnten gerettet werden. Über die Identität der Toten können oft nur die Überlebenden Auskunft geben.
Die Ertrinkenden riefen ihre Namen
Auch Fanus, eine junge Frau aus Eritrea, hat mit Journalist Eric Reidy gesprochen - über den Moment im Oktober 2013, als sie selbst im Mittelmeer ums Überleben kämpfte. Um nicht zu ertrinken, musste sie einen Mann wegstoßen, der sich verzweifelt an sie geklammert hatte. "Überall, wohin ich sah, trieben tote Menschen im Wasser", erzählte sie. "Manche ertranken vor meinen Augen. Manche schrien nur, andere beteten. Und einige sagten immer wieder ihre Namen und woher sie kamen - Botschaften an ihre Familien."
Fanus, schreibt Journalist Reidy, ist eine von 155 Überlebenden jenes Bootsunglückes, das 2013 als die Flüchtlingstragödie von Lampedusa Schlagzeilen machte und in dessen Folge die Seenotrettung "Mare Nostrum" gegründet wurde. Vom Verschwinden Segen Isaias`, ihrer Tochter Abigail und den 241 weiteren Vermissten des "Geisterschiffes" habe jedoch niemand berichtet, schreibt Reidy. Auch eine offizielle Untersuchung habe es nie gegeben. Bis heute hat Yafet Isaias keine Gewissheit.
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