Alzheimer ist die mit Abstand häufigste Demenzform weltweit - allein in Deutschland sind Schätzungen zufolge rund eine Million Menschen betroffen. Bisher kannte man zwei Formen der Erkrankung, bei der Nervenzellen im Gehirn absterben: Gängig ist die altersbedingte, sogenannte sporadische Variante, deutlich weniger häufig die genetisch bedingte Form. Nun schreiben britische Mediziner von einem extrem seltenen dritten Typus, übertragbar durch eine sehr spezielle medizinische Prozedur, die seit fast 40 Jahren nicht mehr angewendet wird.
Die Gruppe um John Collinge von der Londoner National Prion Clinic (NPC) stützt die Behauptung auf Fallberichte von acht Menschen, die in ihrer Kindheit - vor 1985 - ein Wachstumshormon gespritzt bekamen, das aus dem Gehirngewebe Verstorbener stammte. Sie entwickelten demnach einige Jahrzehnte später, noch in auffällig jungem Alter, Alzheimer-Symptome. "Die Alzheimer-Krankheit sollte nun als potenziell übertragbare Störung anerkannt werden", schreibt das Team im Fachjournal "Nature Medicine".
Deutsche Fachleute vorsichtig bei Bewertung
Etwas vorsichtiger äußern sich deutsche Fachleute, die nicht an der Studie beteiligt waren: Eindeutig bewiesen sei der Zusammenhang noch nicht, sagt Mathias Jucker vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung der Universität Tübingen und dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Sollte er sich bestätigen, wäre die Entdeckung "ein glaublich bedeutsames Resultat". Es wäre unter anderem der Beweis für die seit Langem diskutierte Annahme, dass fehlgefaltete Formen des Proteins Amyloid beta die Erkrankung verursachen können - und nicht nur ein Nebenprodukt des Absterbens von Hirnzellen sind.
Auch Inga Zerr von der Universitätsklinik Göttingen ist zunächst noch zurückhaltend: "Die Daten sind noch unvollständig", sagt die Neurologin, "aber es fügt sich ins Bild. Der Sache muss man weiter nachgehen."
Keinerlei Risiko beim Umgang mit Alzheimer-Patienten
Klar ist: Beim täglichen Umgang mit Alzheimer-Patienten und auch bei ihrer medizinischen Versorgung bestehe keinerlei Risiko, betonen sämtliche Experten. Die Gruppe um Collinge hatte sich Fälle von Menschen angeschaut, die in ihrer Kindheit wegen Wachstumsstörungen einer sehr speziellen Therapie unterzogen worden waren: Ihnen wurde jeweils mehrmals intramuskulär ein menschliches Wachstumshormon (hGH) injiziert, das zu jener Zeit noch aus der Hypophyse von Toten gewonnen wurde.
Von 1959 bis 1985 waren damit allein in Großbritannien mindestens 1848 Menschen behandelt worden - auch in Frankreich, den USA, Australien und Deutschland war die Therapie in Gebrauch. Die Praxis wurde gestoppt, nachdem sich weltweit mehr als 200 Empfänger, 80 davon in Großbritannien, mit der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJD) infiziert hatten, einer seltenen, stets tödlich verlaufenden Hirnerkrankung. Bei ihnen hatte das injizierte Präparat fehlgefaltete Proteine - sogenannte Prionen - enthalten, die sich im Körper verbreiten und diese Krankheit verursachen können.
In Deutschland keine CJD-Übertragung durch Verfahren
Solche Übertragungen seien jedoch sehr selten gewesen, betont die Gruppe um Collinge. In Deutschland habe es keine CJD-Übertragung durch dieses Verfahren gegeben, sagt die Göttinger Expertin Zerr, die Prionenerkrankungen untersucht. "Das hätten wir gesehen." Inzwischen wird das Hormon anders hergestellt.
Dass Prionenerkrankungen übertragbar sein können - etwa durch den Verzehr von Prionen-infiziertem Rindfleisch -, ist seit Langem bekannt. Doch bei Untersuchungen von CJD-Todesfällen, bei denen die Betroffenen mit dem Wachstumshormon behandelt worden waren, stießen Mediziner in den Gehirnen mancher Verstorbener auch auf ausgeprägte Ablagerungen des fehlgefalteten Proteins Amyloid beta (Aß). Diese Ablagerungen sind ein pathologisches Merkmal der Alzheimer-Krankheit und vermutlich auch deren Hauptursache. Ob diese Menschen Alzheimer-Symptome entwickelt hätten, wenn sie nicht an CJD gestorben wären und länger gelebt hätten, war allerdings unklar.
Präparate nachträglich analysiert
Nachträgliche Analysen solcher Präparate zeigten, dass manche der damals verabreichten Hormonmittel tatsächlich auch fehlgefaltetes Amyloid beta enthielten. Die nun vorgestellten Fälle betreffen Menschen, die mit solchen Hormonpräparaten behandelt wurden und nicht an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit erkrankten. Fünf von ihnen entwickelten etwa drei bis vier Jahrzehnte nach den Hormon-Injektionen Alzheimer-Symptome - und zwar auffällig früh, im Alter von 38 bis 55 Jahren.
Andere Gründe für diese Entwicklung - insbesondere eine genetische Veranlagung - fand das Forschungsteam nicht. Auch dafür, dass der Mangel des Wachstumshormons selbst oder andere verabreichte Therapien die Demenz ausgelöst haben könnten, gibt es keinen Anhaltspunkt.
Hormontherapie seit 1985 nicht mehr angewendet
Stattdessen gehen die Forscher davon aus, dass es zusätzlich zu den beiden bekannten Varianten eine dritte, durch medizinische Maßnahmen bedingte - sogenannte iatrogene - Alzheimer-Form geben müsse. Diese sei äußerst selten, heißt es weiter. Das liegt zum einen daran, dass die Hormontherapie seit 1985 nicht mehr angewendet wird. Zudem betreffen die Fälle ausschließlich Empfänger des Wachstumshormon-Präparats, das nicht nur aus der Hypophyse von Toten stammte, sondern zudem noch nach einer sehr speziellen Methode aufbereitet worden war: Dieses sogenannte Wilhelmi-Verfahren könne enthaltende Prionen und auch Amyloid beta nicht unschädlich machen, heißt es in einem "Nature"-Kommentar.
"Die von uns beschriebenen Menschen waren einer bestimmten und seit langer Zeit aufgegebenen medizinischen Behandlung unterzogen worden", betont Collinge in einer Mitteilung des Londoner University College. "Dabei wurde ihnen Material injiziert, von dem wir heute wissen, dass es mit krankheitsbezogenen Proteinen verunreinigt war. Es gibt keinerlei Hinweis dafür, dass die Alzheimer-Krankheit zwischen Menschen bei Alltagsaktivitäten oder bei der normalen medizinischen Pflege übertragen werden kann."
"Alzheimer kann unter außergewöhnlichen Umständen übertragen werden"
In dem "Nature"-Kommentar schreiben der Tübinger Experte Jucker und Lary Walker von der Emory University in Atlanta, die Studie biete Belege dafür, dass die Alzheimer-Krankheit unter außergewöhnlichen Umständen übertragen werden könne. Zwar sei angesichts der teilweise sehr unterschiedlichen Fallbeispiele Skepsis geboten. "Aber andererseits gibt es gute Gründe dafür, die Ergebnisse ernst zu nehmen", so die Fachleute.
"Nach dieser Publikation wird es sicher viele Folgearbeiten geben, die das Resultat prüfen", sagt Jucker. "Sollte sich das Ergebnis bestätigen, wäre das mechanistisch äußerst interessant." So könnte etwa die Erforschung von Alzheimer-Therapien, die auf Amyloid beta abzielen, einen Boost erleben. Zudem würde es dafür sprechen, dass das Alzheimer-Syndrom eine Prionen-Erkrankung ist - also auf fehlgefalteten Proteinen beruht, die sich im Körper ausbreiten.
"Extreme Sondersituation"
Zerr betont, dass Alzheimer - und auch Parkinson - ohnehin schon als Prionen-ähnliche Erkrankungen gelten, weil daran fehlgefaltete Proteine beteiligt sind. Doch im Gegensatz zu den Prionenerkrankungen seien sie - wenn überhaupt - nur unter ganz speziellen Umständen übertragbar: "Die hier beschriebenen Fälle sind eine extreme Sondersituation", erläutert Zerr. "Ich wüsste nichts Vergleichbares."
Gleichwohl betont das Forschungsteam um Collinge in "Nature Medicine", die Erkenntnis unterstreiche die Notwendigkeit, zufällige Übertragungen durch andere medizinische Verfahren oder neurochirurgische Instrumente zu überprüfen. Jucker stimmt grundsätzlich zu: Allerdings seien Mediziner diesbezüglich ohnehin äußerst vorsichtig geworden - schließlich stand der Verdacht einer möglichen Übertragung schon länger im Raum: "Wir sind jetzt schon sehr umsichtig."
Quelle: ntv.de, Walter Willems, dpa
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