“CDU-Mitglieder leben in einer Parallelgesellschaft“

  19 April 2016    Gelesen: 491
“CDU-Mitglieder leben in einer Parallelgesellschaft“
Kurs der Mitte beibehalten statt Rechtsruck: Die CDU-Führung um Merkel fürchtet die Grünen als Konkurrenz mehr als die AfD. Entsetzen herrscht darüber, dass vor allem Wähler im Rentenalter abspringen.
Wer ist der größte Feind der CDU? Zur Beantwortung dieser Frage war Matthias Jung, Meinungsforscher aus Mannheim, am Sonntag nach Berlin gereist, um Angela Merkel und ihrer Parteiführung eine wissenschaftliche Grundlage für eine Strategiediskussion zu liefern. Jung hatte viele Charts vorbereitet, die von seinem Computer an die Wand des Präsidiumszimmers im Konrad-Adenauer-Haus geworfen wurden. Und die versammelten Ministerpräsidenten, Fraktionsvorsitzenden, Minister und Abgeordnete hatten darüber hinaus noch mehr Fragen.

Manche Antwort überraschte. So ist demnach weder die neue rechte Konkurrenz von der Alternative für Deutschland (AfD) die größte Konkurrenz für die CDU – noch die SPD oder gar die Grünen.

Es ist der Tod: An niemanden verliert die Union so viele Stammwähler. Eine Million Unionswähler segnen in jeder Legislaturperiode das Zeitliche, rechnete Jung vor. Meint im Umkehrschluss: Eine Million Wechselwähler müssen bei jeder Bundestagswahl neu gewonnen werden, nur damit der schwarze Balken am Wahlabend stabil bleibt.

Der Wissenschaftler lieferte und interpretierte vor allem Daten – aber er hielt zugleich ein Plädoyer für die Beibehaltung, ja Verschärfung des Modernisierungskurses. Die deutsche Gesellschaft denke viel progressiver als die CDU-Parteimitglieder, vermittelte Jung nachdrücklich.

"Er hat uns geraten, nicht den CDU-Stammtisch mit der Basis zu verwechseln", berichtete ein Präsidiumsmitglied. Ein weiteres fasste am nächsten Morgen sogar zusammen: "Unsere Parteimitglieder leben demnach in einer Parallelgesellschaft."

Demoskop widerspricht der CSU-These

Die These der Schwesterpartei CSU lautet anders: Die CDU sei so weit in die linke Mitte gerückt, dass rechts ein Platz für die AfD entstanden sei. Das stimmt aber nicht – jedenfalls nicht, wenn man Wahlforscher Jung folgt. Der präsentierte den CDU-Spitzen die Wählerwanderung: Über 100.000 ehemalige Wähler sind bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg vor einem Monat zu den Grünen gewechselt.

Und darunter – bei diesem Chart seufzten einige überrascht und entsetzt – waren vor allem über 60 Jahre alte Wähler. Meint: Für zu modern haben diese Senioren die Christdemokraten bestimmt nicht gehalten.

Nach Teilnehmerangaben herrschte bei der Sitzung lange eher die ruhige Atmosphäre eines Uni-Seminars als die Stimmung einer kontroversen Debatte. Als Jung allerdings die Distanzierung der Landesverbände in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg von der Flüchtlingspolitik als schlachtentscheidenden Fehler benannte, erntete er Widerspruch: "Nicht A2 war das Problem, sondern der Umgang in Berlin damit", soll Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier gesagt haben. A2 hieß der Vorschlag Klöckners für Tageskontingente in der Flüchtlingskrise.

Es sei "nicht fair", alle Schuld auf die Landesverbände abzuladen, meinten auch andere: In Berlin seien "kommunikative Fehler" gemacht worden. Tatsächlich hatte Unionsfraktionschef Volker Kauder das Klöckner-Wolff-Papier einen Tag nach seiner Veröffentlichung in einem Fernsehinterview als überflüssig hingestellt.

Wer bei Wahlen über 40 Prozent landen wolle, müsse "auch die Konservativen mitnehmen, auch nach rechts integrieren", hieß es in der Debatte dem Vernehmen nach von mehreren Seiten.

AfD bezwingen? Für Tauber ein Job aller Parteien

Auf einer Pressekonferenz am Montag fasste Generalsekretär Peter Tauber die Analyse Jungs und die anschließende Debatte allerdings wie folgt zusammen: "Die CDU sieht sich bestätigt, dass sie den Platz in der politischen Mitte behauptet."

Tauber ist der Meinung, die AfD könne nicht von der Union allein, sondern nur durch Anstrengungen aller etablierten Parteien überflüssig gemacht werden. Tatsächlich war die rechte Partei nach Jungs detaillierten Analysen am stärksten von früheren Nichtwählern und dann von Ex-Wählern aller anderen Parteien gewählt worden. Im Osten hätten vor allem ehemalige Rechts- und Linksradikale die AfD stark gemacht. Diese seien für die CDU noch nie zu gewinnen gewesen.

Die stellvertretende Parteivorsitzende Julia Klöckner sagte N24, dem TV-Sender der "Welt"-Gruppe: "Es gibt nicht mehr die klassischen Schubladen. Die Frage nach Sicherheit, die Frage nach Verlässlichkeit, ist ja nicht eine Frage nach rechts oder nach konservativ."

Den Beitrag der CDU dazu sieht General Tauber vor allem im Vermitteln von "Sicherheit in all ihren Facetten". Dazu wird innere und äußere Sicherheit, aber auch soziale Sicherheit gezählt. Anders als die CSU ist die CDU aber noch nicht bereit, sich das Wohlwollen der Wähler durch Rentenerhöhungen zurückkaufen zu wollen.

Tauber betonte, eine wettbewerbsfähige Wirtschaft sei die Voraussetzung für soziale Sicherheit. Und in der Debatte am Vorabend hatte der Staatssekretär im Finanzministerium, Jens Spahn, gewarnt: "Einen Wahlkampf, wer die höchsten Renten verspricht, verlieren wir immer."

Vom Konzept der geförderten Eigenverantwortung will die Merkel-Partei zumindest noch nicht lassen. Das Diktum von CSU-Chef Horst Seehofer, die Riester-Rente sei gescheitert, machte sich Tauber dezidiert nicht zu eigen: Zwölf Millionen Menschen in Deutschland würden "riestern", rechnete er vor und meinte, man könne "nicht pauschal sagen, dass eine Vorsorgeform gescheitert" sei. Bevor man ein eigenes Konzept vorstelle, warte man die Vorschläge von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) ab.

Also: Weiter Kurs auf die Mitte, Vorsicht bei großen Versprechungen – dieses Fazit dürfte man in München nicht gerne gehört haben. Aber um doch noch eine gemeinsame Strategie mit der CSU zu finden, ist bereits ein eigenes Treffen anberaumt. Im Juni will man auf einer gemeinsamen Klausurtagung zueinanderfinden – eine wissenschaftliche Einstimmung durch einen Demoskopen ist dann allerdings nicht geplant.

Quelle : welt.de

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