Nikos Xydakis: Die Zahlen der Europäischen Kommission sind enttäuschend. Die Zielvorgabe für den März lag bei 3000 Menschen. Frankreich und die Niederlande haben jeweils 200 Flüchtlinge aufgenommen, Finnland und Portugal je 60. Es ist, wie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gesagt hat: Die Kommission hat in der Flüchtlingskrise versagt, die gemeinsame europäische Politik hat versagt. 26 der 28 Mitgliedsstaaten haben im Juni 2015 ein gemeinsames Vorgehen beschlossen, aber die meisten von ihnen sind damit beschäftigt, die Umsetzung systematisch zu verschleppen. Das offizielle Ziel lautet, 160.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland auf andere EU-Staaten zu verteilen. Tatsächlich sind es bislang weniger als 1100. Weder politisch noch intellektuell ist Europa willens oder bereit, eine Antwort auf diese historische Herausforderung zu finden.
Die Europäische Union scheint nicht in der Lage zu sein, die Vereinbarung durchzusetzen.
Seit 2008 gab es in Europa zwei große Krisen. In der Eurokrise haben alle Mitgliedsländer unnachgiebig darauf bestanden, dass die Regeln buchstabengenau befolgt werden. Zu der Vereinbarung über die Flüchtlinge herrscht dagegen völliges Schweigen. Die Visegrád-Staaten (Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Polen) und Österreich haben die Vorstellung entwertet, dass gemeinsame Entscheidungen zu respektieren und zu befolgen sind.
Hat die Flüchtlingskrise die Haltung der Mitgliedsstaaten zu Griechenland und zu den Finanzhilfen für Griechenland verändert?
Indirekt und teilweise. Der politische Umgang mit der griechischen Krise und die Rhetorik sind anders als in den Jahren von 2010 bis 2012. Viele Nordeuropäer haben verstanden, dass die Rentner in ihren Ländern nicht von griechischen Arbeitnehmern enteignet wurden. Was die Südeuropäer hat leiden lassen, hat Ähnlichkeit mit den Gründen für das Leid von Arbeitnehmern und Rentnern im Norden.
Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts waren die Europäer mit vielen Lügen und erpresserischen Dilemmata konfrontiert, vor allem aus extrem konservativen und "liberalen" Kreisen. Das war Teil eines Sozialdumpings, und die Reaktion vieler Bürger war es, sich dem rechten Ende des politischen Spektrums zuzuwenden – ein Phänomen, vor dem jetzt genau die Kräfte Angst bekommen, die die Bürger damals reingelegt haben. Insofern hat es aufgehört, dass Griechenland zum Sündenbock gemacht wird.
Ein positiver Faktor, um mit Stereotypen zu brechen, war auch die Haltung der griechischen Regierung und des griechischen Volkes in der Flüchtlingskrise. In der Zeit von 2010 bis 2012 hatte es viel Populismus gegen Griechenland gegeben. Das ist jetzt eindeutig anders. Die europäischen Institutionen – die Kommission, die EZB und so weiter – haben akzeptiert, dass ein Land im sechsten Jahr einer Krise nicht allein mit den Flüchtlingen klarkommen kann.
Mit Blick auf die Finanzhilfen für Griechenland sehen wir häufig, dass die Gläubiger immer neue Reformen fordern. Worum geht es in diesem Streit?
Wenn die Menschen das Wort "Reformen" hören, dann wissen sie, dass ihnen etwas Schlechtes widerfahren wird. Unter dem Deckmantel von Reformen – die in früheren Jahrhunderten eine revolutionäre oder wenigstens nützliche Bedeutung hatten – fand eine Demontage des Sozial- und Rechtsstaates statt. Diese "Reformen" sind eine Form von Neusprech (in dem Roman "1984" von George Orwell ist "Neusprech" ein Instrument des totalitären Staates, um die Bürger zu manipulieren, Anm. d. Red.).
Viele "Reformen", die Griechenland als Bedingung für wirtschaftliche Hilfe aufgezwungen wurden, zerstören einfach nur jede Aussicht auf eine Rückkehr zum Wachstum. Sie minimieren das ohnehin schon reduzierte verfügbare Einkommen, vernichten die Nachfrage und sorgen für weitere Deflation. Sie ziehen Geld aus der Realwirtschaft ab und werfen es in das Fass ohne Boden – in den Schuldendienst und das "Kein Defizit"-Tabu.
Eine dritte Meinungsverschiedenheit betrifft die Wege, wie die Fiskalziele erreicht werden sollen, die Griechenland auferlegt wurden. Die Geldgeber wollen festlegen, wie die Einsparungen erreicht werden, statt die griechische Regierung das entscheiden zu lassen. So wird jede Idee staatlicher Souveränität zerstört. Das ist einer Europäischen Union unwürdig.
Auch die Europäische Union steckt in der Krise. Viele Bürger haben das Vertrauen in die Institutionen verloren. Die Währungsunion schuf nicht Wachstum und Beschäftigung, die Schuldenkrise ist nicht gelöst. Und jetzt scheint die EU unfähig zu sein, die Flüchtlingskrise anzugehen. Das Referendum in den Niederlanden, die Volksabstimmung in Großbritannien über den Brexit, die Diskussion über einen finnischen Euro-Austritt – könnte es sein, dass das Risiko besteht, dass EU oder Eurozone zusammenbrechen?
Ein Zusammenbruch kann nicht ausgeschlossen werden. Wenn er passiert, dann wird er nicht vom Rand ausgehen, sondern von den Kernstaaten der EU. Ich glaube aber, dass Europa einen Weg finden wird, sich an die wahren Bedürfnisse der Ökonomien und der Menschen anzupassen, durch eine Föderalisierung, eine politische Union mit wirklich demokratischen Elementen. Wenn das nicht gelingt, dann besteht die Gefahr, dass wir in eine Situation zurückfallen wie vor dem Zweiten Weltkrieg: ein fragmentierter Kontinent mit extremer Ungleichheit, der einen europäischen Bürgerkrieg anfing, der als Kalter Krieg bis zum Ende des Jahrhunderts andauerte.
Auf der Basis dieser Erfahrung wurde die Europäische Union geschaffen, um die Europäer vor Krieg zu bewahren, vor Ungleichheit und Elend. Die EU ist ein großartiges historisches Experiment, das zu lange ans neoliberale Dogma angekettet war – ein zutiefst undemokratisches System, das gegen Gleichheit und soziale Gerechtigkeit kämpft.
Wenn wir keine nüchterne, ernsthafte und selbstkritische Debatte über Reformen anfangen, dann besteht wirklich die Gefahr einer Auflösung, und der Frieden, den wir heute für selbstverständlich halten, könnte ins Wanken geraten.
Sehen Sie Staats- und Regierungschefs in der EU, die Reformen in diesem Sinne befürworten?
Sehr wenige. Die meisten haben ein sehr kurzfristiges Politikverständnis. Lösungen findet man damit nicht.
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