ntv.de: CDU-Politiker Jens Spahn will heimkehrwillige Syrer mit einer Rückreiseprämie locken: 1000 Euro Handgeld und einen Freiflug. Was würde es für die deutsche Wirtschaft bedeuten, falls viele Syrer in die Heimat zurückkehren?
Dirk Werner: Es kommt darauf an, wer zurückgehen würde. In Deutschland gibt es aktuell knapp 214.000 syrische Beschäftigte – es kommen weitere dazu, die inzwischen eine deutsche Staatsbürgerschaft haben. Auch die Eingebürgerten könnten theoretisch mit einem deutschen Pass in ihr Herkunftsland zurückkehren. Falls diese 214.000 Arbeitsplätze vakant wären, gäbe es am Arbeitsmarkt vielleicht noch ein paar Arbeitslose, die wenige Stellen besetzen könnten. Wir haben aber 80.000 dieser Beschäftigten in Engpassberufen, bei denen es äußerst schwer ist, Ersatz zu finden. Es sind viele Berufe darunter, die wir dringend brauchen, im Sozialwesen, in Gesundheitsberufen, aber auch im Handwerk.
Der Vorstandschef der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, warnt vor den Auswirkungen, sollten syrische Ärzte wegziehen. 5750 syrische Mediziner arbeiten in Deutschland. Gäbe es wirklich einen Schock für die Gesundheitsbranche?
Ja, in bestimmten Bereichen. Die knapp 6000 Ärzte und Fachärzte mit syrischer Nationalität würden massiv fehlen. Wir haben jetzt schon bei Hausarztpraxen ein Riesenproblem und im ländlichen Raum ist die Ärzteversorgung gefährdet. Engpässe gibt es auch in anderen Gesundheitsberufen, beispielsweise bei zahnmedizinischen Fachangestellten. Wir haben das gleiche Problem in der Gesundheits-, Alten- und Krankenpflege. Rein quantitativ gesehen sind die Syrer zwar nur ein kleiner Prozentsatz von mehr als 400.000 Ärzten in Deutschland. Aber wir haben demografisch bedingt einen massiven Mangel an Ärzten, der zunehmen wird. In den Gesundheitsberufen werden in den kommenden zehn Jahren ein Viertel der Beschäftigten in Rente gehen. Wir stehen international im Wettbewerb mit anderen Ländern, die auch Fachkräftemangel haben. Uns tut der Abgang jeder Fachkraft im Gesundheitsbereich weh, weil das eine Stelle ist, die höchstwahrscheinlich nicht nachbesetzt werden kann.
Die Beschäftigungsquote der Syrer in Deutschland lag Ende 2023 bei 39,8 Prozent. 2016 waren das mit 7 Prozent noch viel weniger. Für die deutsche Gesamtbevölkerung liegt die Beschäftigungsquote bei 67,8 Prozent. Haben sich Syrer im Vergleich zu anderen Nationalitäten unter Flüchtlingen schnell in den Arbeitsmarkt integriert?
Gemessen an der Tatsache, dass die meisten Syrer als Flüchtlinge zu uns gekommen sind und nicht als Arbeitsmigranten, haben sie sich schnell integriert. Hinzu kommt ihr niedriges Durchschnittsalter mit 26 Jahren, das bedeutet, dass sich viele noch in der Ausbildung befinden. Es gibt viele Mütter unter ihnen, die mit Kinderbetreuung und teilweise mit der Pflege älterer Angehöriger beschäftigt sind, was eine zusätzliche Belastung für alle darstellt, die arbeiten möchten. Die Integration ist auch davon abhängig, ob jemand ein Talent dafür hat, Sprachen schnell zu lernen. Es gibt Menschen, die sind nach einem halben Jahr arbeitsmarktfähig, andere brauchen länger. Auch bei Beschäftigten in reglementierten Berufen, wie etwa bei Ärzten, dauert es länger, weil sie aus guten Gründen Jahre für die staatliche Anerkennung ihres ausländischen Berufsabschlusses brauchen.
Von den arbeitenden Syrern waren Ende 2023 gut 80 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt, 174.000 Männer und 30.700 Frauen. Sind diese Beitragszahler wichtig für das deutsche Renten- und Sozialsystem?
Die Relation aus Beitragszahlern und denen, die in Rente sind, liegt heute bei rund 1,8:1. Wir werden im Laufe der nächsten zehn Jahre auf ein Verhältnis von 1,5:1 kommen. Jeder, der Beiträge einzahlt in die Sozialversicherung, hilft, die Sozialversicherungssysteme stabil zu halten. Das ist eine große Gestaltungsaufgabe für die Politik. Jetzt kann man sagen: Die Zahl der syrischen Beschäftigten mit 214.000 ist nur ein kleinerer Teil des deutschen Arbeitsmarktes. Es ist aber ein nennenswerter Teil, der dazu beiträgt, die Sozialabgaben auf einem niedrigeren Niveau zu halten. Aber klar ist auch, dass ein nennenswerter Teil der in Deutschland lebenden Syrer derzeit noch auf Transferleistungen angewiesen ist.
Wegen der schwächelnden Konjunktur wollen im kommenden Jahr vier von zehn Firmen Stellen abbauen, wie eine Studie des IW ergab. Der seit 2005 anhaltende Beschäftigungsaufbau in Deutschland "ist zu Ende", heißt es. Wird es dennoch weiter einen hohen Bedarf an Fachkräften geben?
Ja, denn wir haben parallel zwei Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Wir haben sowohl Fachkräftemangel in bestimmten Berufen als auch eine steigende Arbeitslosigkeit, die konjunkturbedingt ist. Wir wissen zwar nicht, wie lange die Konjunkturflaute andauert, aber sehr wohl, dass der Fachkräftemangel sich strukturell verschärfen wird. Die Stellen, an denen wir Bedarf haben, passen nicht zu den Berufen der Arbeitslosen. Viele von ihnen haben Helfertätigkeiten ausgeführt und keine abgeschlossene Berufsausbildung. In Deutschland gibt es 2,9 Millionen Menschen unter 35 Jahren, die noch keinen Berufsabschluss erworben haben. Aber wir brauchen höher Qualifizierte und müssen in die Qualifizierung des Nachwuchses investieren.
Verschrecken Vorschläge wie der von Spahn die Hochqualifizierten aus Syrien?
Das löst in der ganzen Community sicher erst einmal Unsicherheit aus. Man muss dazu wissen, dass die meisten Syrier in Deutschland entweder einen subsidiären Schutz oder Flüchtlingsschutz haben. Der dauert maximal drei Jahre. Die Menschen fragen sich deshalb: Wie lange darf ich hier noch bleiben? Bin ich jetzt vielleicht noch ein Jahr hier? Ein halbes Jahr? Geht das mit dem Flieger schon Anfang nächsten Jahres los? Die Unsicherheit beeinflusst ihre Einstellung dazu, welche Perspektive sie in Deutschland für ihre Entwicklung sehen. Sie sind sich nicht mehr sicher, ob sie hierzulande mehr in ihre Qualifikation investieren, die Sprache weiter lernen und die Karriereleiter hochklettern wollen. Deswegen ist es unglücklich, dass es auch Stimmen in der Politik gibt, die nicht mehr wie Jens Spahn nur von der freiwilligen Rückkehr der Syrer sprechen - sondern dass die Diskussion in Rechtsaußen-Parteien eine andere Fahrt aufgenommen hat.
Mit Dirk Werner sprach Lea Verstl
Quelle: ntv.de
Tags: