Die Türkei trauert, die Türkei zürnt

  13 Oktober 2015    Gelesen: 659
 Die Türkei trauert, die Türkei zürnt
Proteste, Trauermärsche, Streiks: Nach den Anschlägen von Ankara will die Regierung zur Tagesordnung zurückzukehren - doch viele Türken weigern sich. Sie misstrauen Staatschef Erdogan.
Ein paar Dutzend Rosen, willkürlich verstreut am Straßenrand. Mehr lassen die türkischen Behörden an Gedenken nicht zu. Mindestens 97 Menschen starben und mehrere Hundert wurden zum Teil schwer verletzt, als sich vergangenen Samstag vermutlich zwei Attentäter auf einer Friedensdemonstration am Bahnhofsplatz in Ankara in die Luft sprengten.

Nun, wenige Tage nach dem schlimmsten Anschlag in der jüngeren türkischen Geschichte, ist in Ankara von den Spuren der Tat nicht mehr viel zu sehen. Die Stadt hat die Straße gereinigt und die Scheiben des Bahnhofsgebäudes ersetzt, die bei der Bombenexplosion zerbarsten. Auch der Verkehr ist längst wieder freigegeben.
Nichts, so scheint es, soll an das Massaker erinnern.

Polizisten bewachen den Bahnhofsplatz. Sie halten Trauernde fern. Die Regierung will offenbar mit aller Macht verhindern, dass der Ort zu einem Mahnmal wird, womöglich gar zu einer Stätte des Protests. Denn die Wut vieler Türken ist inzwischen fast so groß wie ihre Trauer um die Toten.

Viele Türken weigern sich, wieder zur Tagesordnung überzugehen. In einigen Städten formierten sich am Montag Trauer- und Protestzüge. Gewerkschaften und Verbände riefen landesweit zu Streiks auf.

Im Istanbuler Stadtteil Maltepe etwa, so berichtet es die Zeitung "Hürriyet Daily News", legten Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung ihre Arbeit nieder und zogen durch die Straßen. Anwälte skandierten Protestslogans vor Gericht, Studenten boykottierten ihre Lehrveranstaltungen, Angestellte demonstrierten.

Klima der Unsicherheit und Brutalität

Zwar glaubt nur eine Minderheit, die Regierung von Recep Tayyip Erdogan könnte tatsächlich hinter dem Anschlag stecken, doch viele sagen, der Präsident habe durch seine Innen- und Außenpolitik in den vergangenen Jahren zur Eskalation der Gewalt beigetragen.

Der türkische Autor und Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk fasst als prominenter Kritiker der AKP-Regierung nur in Worte, was viele denken und fürchten: Pamuk warnt, das Land könne in einem sektiererischen Konflikt versinken - und weist Erdogan die Schuld zu, weil er ein Klima der Unsicherheit und Brutalität geschaffen habe. Erdogan habe aus wahltaktischen Gründen den Krieg gegen die Kurden neu entfacht und das Land ins Chaos gestürzt, so zitiert die Zeitung "Hürriyet Daily News" den Schriftsteller.

Mahnungen wie die des Vize-Ministerpräsidenten Numan Kurtulus verhallen in dieser Stimmungslage. Der AKP-Mann mahnte Einheit und Solidarität an. Die Hintergründe des Anschlags seien zwar noch nicht geklärt, aber man habe bereits "eine große Zahl" Verdächtiger festgenommen. Die Fahnder stünden kurz davor, die Verantwortlichen zu identifizieren. Die Terroristen seien es, die das Land mit ihren Anschlägen spalten wollen.
Der Vorsitzende der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, warf der Regierung hingegen erneut vor, von den Anschlagsplänen gewusst und nicht dagegen unternommen zu haben. Das politische Klima ist mittlerweile so vergiftet, dass auch die Neuwahlen Anfang November kaum Besserung versprechen. Wie sollen Parteien miteinander koalieren, deren führende Vertreter sich des Terrorismus bezichtigen?

"Das optimistische Szenario ist, dass sich eine breit aufgestellte Regierung bildet", sagt Sinan Ulgen vom Thinktank Edam in Istanbul. Diese Regierung müsse sich auf einen Neustart des Friedensprozesses mit den Kurden konzentrieren und für Stabilität sorgen. "Die andere Möglichkeit ist, dass wir dasselbe Bild haben wie heute, dass keine Koalition gebildet wird, dass die Türkei in eine tumultartige Zukunft geführt wird."

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