Der Bundespräsident wird also, falls er so entscheidet, eher private Gründe nennen. Er wird sagen, dass er lange mit sich gerungen habe, dass er ein Alter erreicht habe, in dem er sich keine großen Strapazen mehr zumuten könne und wolle. Würde er noch einmal gewählt, wäre er am Ende seiner Amtszeit 82 Jahre alt.
Aber in dieser Begründung läge eben nicht nur etwas Privates, sondern auch etwas Politisches, denn Joachim Gauck hängt eigentlich an dem Amt und seinen Gestaltungsmöglichkeiten. Doch es beschäftigt ihn womöglich die Angst – die einige seiner Mitarbeiter durchaus umtreibt –, dass ihm in der zweiten Amtszeit mögliche Fehler als Altersschwäche ausgelegt würden, dass sein gutes Bild mit der Zeit zur Karikatur verkommen könnte, wenn man anfinge zu raunen, der alte Herr sei nicht mehr ganz auf Zack.
Er würde sich einiges zumuten, wenn er weitermachte, aber es wäre gut für das Land
Es gibt in unserer jede Form von Rassismus anprangernden Gesellschaft nur noch eine Art der Diskriminierung, der man völlig ungehindert frönen darf: die Herabsetzung der Alten. Als wäre mit dem Eintritt ins Rentenalter der direkte Übergang in die Unzurechnungsfähigkeit besiegelt. Deshalb beeilt man sich in nahezu jeder Partei, jeder Institution und jedem Unternehmen, nichts schneller voranzutreiben als den allseits fälligen Generationenwechsel. Ein Wolfgang Schäuble, der 73 Jahre alt ist und seit fast 44 Jahren im Bundestag sitzt, gehört quasi unter Artenschutz gestellt. Es ist natürlich fantastisch, dass heute herausragende Positionen von ganz Jungen besetzt werden, dass zum Beispiel der Außenminister Österreichs erst 29 Jahre alt ist oder Europas größte Boulevardzeitung von einer 38-Jährigen geleitet wird. Aber daraus eine Regel zu konstruieren ist besonders widersinnig in einer Gesellschaft, in der die Kohorte der Alten ständig wächst und ältere Menschen genauso nach Leitbildern suchen wie jüngere. Ist doch egal, ob sich ein Bundespräsident zwischen Terminen, die höchste Konzentration erfordern, mal eine Ruhepause gönnt oder sich mittags gern einen Moment hinlegt. Das täte vielen Jüngeren, die heute Verantwortung tragen, auch ganz gut! Entscheidend ist: Jede Gesellschaft braucht – wie jede Familie auch – die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Generationen. Die der Alten ist derzeit öffentlich eher unterrepräsentiert.
Joachim Gauck hat seine Sache bislang gut gemacht: Er hat ein ramponiertes Amt übernommen und voll und ganz rehabilitiert. Er hat sich eine Spontaneität und Empathie bewahrt, die bei Berufspolitikern oft konstruiert wirkt. Besonders eindrücklich war das bei der Trauerfeier für die Opfer des Germanwings-Absturzes, bei der er Worte fand, die so rührten, weil er selbst berührt war. Er hat eine Lust an Widerworten, auch gegen den Mainstream – wenngleich er die Grenzen genau kennt, die ihm sein Amt auferlegt. In der Flüchtlingskrise hat er eine deutlich skeptischere Haltung gezeigt als die Regierung. Andererseits findet er immer wieder erfrischende Worte der Abgrenzung. Erst letzte Woche bekannte er sinngemäß, das Wort "Lügenpresse" gehe ihm deswegen besonders auf die Nerven, weil er unter der Nazi-Diktatur und dem real existierenden Sozialismus 50 Jahre lang selbst erlebt habe, was eine Lügenpresse sei. Manchmal hat er auch einfach nur Ratlosigkeit bekundet, als er zum Beispiel über "Dunkeldeutschland" sprach – ein aufschlussreiches Wort für den psychologisch versierten Gauck: Ein glaubwürdiger Mensch versteht und weiß eben auch nicht alles.
Der Tod großer Politiker oder Intellektueller in den letzten Monaten – von Helmut Schmidt über Roger Willemsen bis Hans-Dietrich Genscher – hat die Deutschen besonders getroffen. Es ist, als ob sie das Gefühl hätten, so viele große Persönlichkeiten gebe es nicht mehr. Joachim Gauck ist eine. Er würde sich gewiss einiges zumuten, wenn er weitermachte. Aber für das Land wäre es eine gute Entscheidung.
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