Am 2. Mai 1945 hat der sowjetisch-jüdische Kriegsfotograf Jewgeni Chaldej eine Mission. Er will als Erster die Flagge der Sowjetunion auf dem deutschen Reichstag in Berlin fotografieren. Es soll ein Foto werden, das den Triumph der Roten Armee über Hitler-Deutschland auf den Punkt bringt.
Mehr als 1100 Tage lang hat der aus Donezk stammende Chaldej als Fotokorrespondent der russischen Nachrichtenagentur Tass die Soldaten der Roten Armee an verschiedenen Fronten in Europa begleitet: Von Murmansk im Norden bis zur Halbinsel Krim im Süden, von Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Österreich bis nach Berlin hält er die Schlachten und Gefechte fest. Anfang Mai 1945 steht er schließlich vor dem Reichstag in Berlin.
Berliner Wahrzeichen im Visier der Sowjets
Vorausgegangen waren heftige Gefechte: Am 16. April hatte die sowjetische Offensive auf Berlin begonnen. Ab dem 20. April näherten sich die Rotarmisten der Stadt, fünf Tage später wurde sie eingekesselt, die Soldaten drangen ins Zentrum vor. Die Erstürmung des Reichstags ist wie die Besetzung des "Führerbunkers" und der Reichskanzlei das symbolisch bedeutsamste Ziel der Offensive.
"Den Westalliierten wollte Stalin 'im Wettlauf um Berlin' unbedingt zuvorkommen, um so eine machtpolitisch günstige Ausgangsposition für die Gestaltung der Nachkriegsordnung zu erzielen", schreibt der Medienwissenschaftler Alexander Zöller in "Die Geschichte hinter dem Bild". Doch die deutsche Wehrmacht leistete erbitterten Widerstand. Vom 28. April bis zum späten Abend des 1. Mai 1945 dauerten die Kämpfe um den Reichstag. Auch wenn es noch zu vereinzelten Kämpfen im Keller des Gebäudes kommt, ist der Reichstag am Morgen des 2. Mai in der Hand der Soldaten der Roten Armee. Ein "Banner des Sieges", die rote Fahne, weht zu diesem Zeitpunkt nicht über dem Gebäude. Chaldej will das ändern.
Neben seiner Leica hat er extra eine für diesen Anlass angefertigte Sowjet-Flagge aus Moskau mitgebracht. In den frühen Morgenstunden trifft er im Eingang des brennenden Reichstags drei Soldaten der Roten Armee. Er bittet sie, ihn zu begleiten. Zumindest wird Chaldej es Jahre später immer wieder so berichten.
Ein inszenierter Augenblick
Gegen sieben Uhr klettern die vier mehr als 40 Meter hoch auf das Parlamentsgebäude. Auf dem Dach sucht Chaldej eine geeignete Stelle, um das Hissen der Flagge zu dokumentieren. Es soll etwas "Signifikantes von der Zerstörung Berlins" zu sehen sein. Die "leere Kulisse des Tiergartens" scheint Chaldej nicht geeignet, wie der Kurator Ernst Volland es im Ausstellungsband "Der bedeutende Augenblick" von 2008 schreibt.
Erst auf der Rückseite des Gebäudes in der Nähe einer der Ecktürme wird Chaldej fündig. Dort hissen die drei Soldaten die Fahne. 36 Bilder, einen ganzen Kleinbildfilm verschießt der Fotograf von diesem Augenblick auf dem Dach. Noch in der Nacht zum 3. Mai fliegt er zurück nach Moskau.
Ein Augenblick und viele Fotos
Doch Chaldejs Sowjet-Flagge ist vermutlich nicht die erste, die auf dem Dach des Reichstags in Berlin gehisst wird. Schon am 1. Mai soll es einer Gruppe sowjetischer Soldaten gelungen sein, eine rote Fahne auf dem Gebäude zu befestigen. "Nach mehrstündigen Kampfhandlungen gelang es erst in den späten Abendstunden einer kleinen Gruppe um den 23-jährigen Rotarmisten Rakhimzhan Qoshqarbaev, eine rote Fahne auf dem Dach anzubringen. Diese Aktion fand gegen 22.50 Uhr statt und gilt in der Literatur als erste bestätigte Flaggenhissung auf dem Dach des Reichstags", schreibt Medienwissenschaftler Zöller. "Aufgrund des anhaltenden Artilleriefeuers und der völligen Dunkelheit war es jedoch unmöglich, Fotos des historischen Ereignisses anzufertigen." Qoshqarbaevs Flagge wird wohl noch in der Nacht von deutschen Scharfschützen heruntergeschossen. Die Ereignisse sind überliefert, es fehlt jedoch ein Bild.
Umgekehrt ist es mit einem weiteren Foto der Flaggenhissung: Am Freitag, dem 3. Mai, veröffentlicht die sowjetische Zeitung "Prawda" ein Bild, auf dem eine rote Sowjet-Flagge über dem Reichstag weht. Doch diese Fotografie stammt nicht von Chaldej. Das Bild hat der sowjetische Korrespondent Viktor Tjomin vom Fuße des Brandenburger Tores aus aufgenommen: Zu sehen ist der rückwärtige Teil des Reichstags, über dem eine riesige Sowjet-Flagge weht. Es soll bereits am 1. Mai entstanden sein. Heute vermuten Experten, dass die Flagge hineinretuschiert wurde, denn die Größenverhältnisse stimmen nicht. Es gibt auch keine Überlieferung, wer diese Flagge gehisst haben könnte.
Retuschiert, montiert, bearbeitet: Eine Fotoikone
Chaldejs Foto erscheint erstmals am 13. Mai 1945 im Innenteil der sowjetischen Jugendzeitschrift "Ogonjok". Kurz vor der Veröffentlichung fällt dem verantwortlichen Redakteur allerdings auf, dass einer der abgebildeten Soldaten an seinen Handgelenken mehrere Armbanduhren trägt. Doch "die Beute privater Raubzüge durfte sich nicht auf dem Foto des Sieges wiederfinden", schreibt Volland.
Um mögliche Spekulationen über Plünderungen zu vermeiden, retuschiert Chaldej eine der Armbanduhren weg. Dafür zerkratzt er auf dem Negativ das rechte Handgelenk des Soldaten. Zudem montiert der Fotograf zwei Rauchwolken in das Bild. "Die Veränderung durch Rauch dramatisiert die Szene, sie unterstützt somit den Eindruck noch anhaltender Kämpfe am Ort des Geschehens", schreibt Volland.
In einer anderen Variante montiert Chaldej eine bauschige Flagge in das Foto. Während diese nach oben rechts weht, zeigt die Flagge im Original nach unten links. Mit fortschreitender Fototechnik in den 1970er Jahren koloriert Chaldej das Bild zudem nach.
Das so veränderte Bild - seine Varianten - werden in der "Ogonjok", dann in der "Prawda" und später in anderen sowjetischen Medien veröffentlicht. Es wird zum Symbol des sowjetischen Triumphs. Die gehisste Flagge geht als "Banner des Sieges" in die Geschichte ein. Heute liegt eine Truppenfahne der Roten Armee im Zentralmuseum der russischen Streitkräfte, "wie in einem Schrein", so Volland. Die aufgebahrte Flagge trägt die Aufschrift einer Einheit der Roten Armee, die an der Erstürmung des Reichstags beteiligt war.
Chaldejs Foto wird nicht nur in der Sowjetunion, sondern vielfach auch in Zeitungen und für Ausstellungen weltweit verwendet. "Das Motiv erschien in sozialistischen Ländern auf Zigarettenpackungen, auf Briefmarken und Plakaten, im Westen sogar als T-Shirt-Aufdruck", schreibt Volland.
Russen, Georgier und Ukrainer
Nicht nur das Foto, auch die abgebildeten Personen werden heroisiert. Offiziell geht Meliton Kantaria, ein Soldat aus Georgien, für das Hissen des Siegesbanners in die Geschichte ein. "Stalin entschied sich offenbar bei der Nennung der beteiligten Soldaten für einen Georgier und zwei Russen. Da er selbst aus Georgien stammte, musste offenbar auch der erste Rotarmist, der die Flagge hisste, ein Georgier sein - so ist jedenfalls zu vermuten", schreibt Volland. Auch die beiden Russen Michail Alexejewitsch Jegorow und Konstantin Samsonow werden zu "Helden der Sowjetunion" erklärt.
Lange widerspricht Chaldej dieser offiziellen Geschichtsschreibung und Heldenverehrung nicht, obwohl er weiß, dass eigentlich kein Georgier auf seiner Fotografie zu sehen ist. "Chaldej war nicht nur der bedeutendste russische Kriegsfotograf, er hatte auch ein außergewöhnliches Gedächtnis, vor allem, was Namen betraf. Er erinnerte sich nahezu an jede Person auf seinen Fotos mit Namen, identifizierte jeden Ort und konnte die Daten nennen", schreibt Volland. Erst kurz vor seinem Tod habe der Fotograf darüber mit Volland gesprochen.
"Er musste eine Geheimhalteverpflichtung unterschreiben, in der stand, dass er mit niemandem über diesen Vorgang sprechen durfte. Was das bei Stalin bedeutete, kann sich jeder denken", gibt Volland aus einem Gespräch mit Chaldej wieder. Die wahren Namen der Flaggenhisser sind demnach Abdulchakim Issakowitsch, Alexei Kowaljow und Leonid Goritschew. Der 18-jährige Kowaljow aus Kiew befestigte die Flagge an einer Dachlatte.
Bis heute prägt Chaldejs Fotografie unser Bild vom Kriegsende in Berlin. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass irgendwo auf einem Dachboden in Russland, der Ukraine oder anderwo ein anderes Bild einer gehissten Sowjet-Flagge auf dem Reichstag existiert, das vielleicht vor dem 2. Mai entstanden ist. Nur kennt die Weltöffentlichkeit dieses Bild nicht.
Quelle: ntv.de
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