Die EU will allen Türken ab Ende Juni einen kostenfreien und problemlosen Zugang in den sogenannten Schengen-Raum erlauben. Sie dürfen sich dann zweimal im Jahr bis zu 90 Tage dort aufhalten.
Wird es jetzt eine Masseneinreise von Türken geben?
Das kann passieren, ist aber noch völlig offen. Einerseits werden die meisten Visumanträge von Türken schon jetzt positiv beschieden. Kritiker wenden dagegen ein, dass Türken, die keine Aussicht auf ein Visum haben, erst gar keinen Antrag auf Einreiseerlaubnis stellen – dieser kostet 60 Euro. Hinzu kommt, dass bisher nur zehn Prozent der Türken überhaupt einen Reisepass, der Voraussetzung für ein Reise nach Europa ist, haben. Für viele Türken ist das Dokument ein teurer Luxus: Es kostet bei einer Gültigkeit von zehn Jahren knapp 200 Euro. In jedem Fall werden nun aber mehr Türken in die EU einreisen als zuvor.
Wo liegen die Risiken der Visumliberalisierung?
Erstens: Türken, die per Visum eingereist sind, könnten länger als die erlaubten 90 Tage in der EU bleiben und untertauchen. Sie könnten sich mit Schwarzarbeit über Wasser halten. Zweitens: Je nach Entwicklung im Krieg der türkischen Regierung gegen die Kurden könnte es zu einem massenhaften Anstieg von Asylanträgen durch Kurden kommen. "Potenziell könnten 400.000 bis 500.000 türkische Flüchtlinge – vor allem Kurden – Asyl beantragen", sagt der Türkei-Experte vom Institut für Sicherheits- und Entwicklungspolitik (ISDP), Gareth Jenkins.
Kann die Visumfreiheit auch wieder aufgehoben werden?
Ja, und zwar schneller als durch den bisherigen Notfallmechanismus. Auf Druck von Deutschland und Frankreich hat sich die EU-Kommission bereit erklärt, eine Art verschärfte Notbremse einzubauen. Dieser sogenannte effiziente Mechanismus kann durch drei Entwicklungen schnell ausgelöst werden. Erstens: Die Zahl derjenigen Türken, die nach drei Monaten nicht zurückkehren, steigt drastisch an. Zweitens: Starker Anstieg der Asylanträge von Türken. Drittens: Weigerung der Regierung in Ankara, die von den EU-Staaten zurückgeschickten Flüchtlinge aus Drittländern auch aufzunehmen.
Hat Ankara wirklich alle Bedingungen für eine Visumfreiheit erfüllt?
Die Türkei muss 72 Bedingungen erfüllen, einige wenige sind bisher noch offen. Darum stellt die EU-Kommission ihre Erlaubnis zum visumfreien Reisen, die noch von den Mitgliedsstaaten und vom EU-Parlament abgesegnet werden muss, unter Vorbehalt. Ankara muss vor allem bei der Anti-Terror-Gesetzgebung, beim Datenschutz und bei der Bekämpfung von Korruption noch nacharbeiten. Im Juni soll dann ein Abschlussbericht vorgelegt werden. Im EU-Parlament dürfte es harte Auseinandersetzungen über die Visumfreiheit geben. Der Chef der konservativen EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU): "Der Ball liegt in Ankara. Die Verantwortung für mögliche Verzögerungen auch."
Wie wichtig ist dem türkischen Präsidenten Erdogan die Visumfreiheit?
Für Erdogan ist die Visumfreiheit von überragender Bedeutung. Ohne die Aussicht auf visumfreies Reisen, hätte er dem Flüchtlingsdeal mit der EU niemals zugestimmt. Diese Regelung ist weitaus wichtiger für Erdogan als sechs Milliarden Euro Finanzhilfen oder ein beschleunigter Beitrittsprozess. Die Visumpflicht hat die Türkei bisher immer als eine Demütigung empfunden: lange Warteschlangen, Kosten, Überprüfungen. Hinzu kommt, dass die Visumfreiheit vor allem eine symbolische Funktion hat und für viele Türken ein Ausdruck von Stärke, Unabhängigkeit und Freiheit ist. Für Erdogan ist die Aufhebung der Visumpflicht ein großer innenpolitischer Erfolg, der ihn verleiten könnte, schon bald Neuwahlen auszurufen.
Grenzkontrollen in Europa
Welche Entscheidung hat die EU getroffen?
Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und das Schengen-Land Norwegen können wegen der Flüchtlingskrise ihre Grenzkontrollen für ein halbes Jahr ab Mitte Mai verlängern. Danach könnten die Grenzkontrollen noch dreimal um sechs Monate verlängert werden. Die EU-Kommission hofft jedoch, dass die Kontrollen der Binnengrenzen Mitte November beendet sein werden. Das hängt aber von der Entwicklung der Flüchtlingsströme ab und davon, inwieweit Griechenland in der Lage sein wird, "schwerwiegende Mängel" beim Schutz der EU-Außengrenzen zu beheben. Sollten sich die Flüchtlingsrouten in Richtung Italien ändern, wird Brüssel sicherlich auch überprüfen, ob Rom in der Lage ist, die EU-Außengrenzen im Mittelmeer ausreichend zu sichern.
Bleiben die Grenzkontrollen zwischen Österreich und Deutschland also bestehen?
Das steht noch nicht fest. Das muss die Bundesregierung entscheiden. Für Berlin war jetzt zunächst wichtig, zumindest die rechtlichen Möglichkeiten zu haben, weitere Grenzkontrollen durchzuführen.
Asylreform
Was ändert sich bei der Verteilung der Flüchtlinge?
Erst einmal gar nichts. Es gilt weiterhin das Prinzip, dass derjenige EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem der Migrant zuerst den Boden der Europäischen Union betritt (Dublin-Regel). Das bedeutet: In Griechenland und Italien werden auch künftig zunächst die meisten Asylverfahren durchgeführt werden. Neu ist jetzt aber die Einführung einer Belastungsgrenze. Sie wird bestimmt durch die Wirtschaftskraft und die Bevölkerungszahl eines Landes. Wird diese zuvor festgelegte Belastungsgrenze um 150 Prozent überschritten, soll künftig automatisch ein sogenannter Fairness-Mechanismus einsetzen, der die neu ankommenden Flüchtlinge nach einer Quote auf andere EU-Länder verteilt. Wer sich weigert, muss eine Strafe von 250.000 Euro pro Asylbewerber, der nicht übernommen wird, bezahlen. Ziel dieses Vorschlags ist, die Mittelmeeranrainer, wie Italien und Griechenland, zu entlasten und mehr Solidarität innerhalb der EU bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu gewährleisten. Beim Erreichen der Belastungsgrenze wird nicht nur die Zahl der Asylbewerber berücksichtigt, sondern auch die Zahl von Flüchtlingen, die ein Land direkt aus Drittstatten im Rahmen einer sogenannten Neuansiedlung (Resettlement) übernommen hat.
Wie will die EU künftig "Flüchtlingstourismus" verhindern?
Bisher versuchen viele Flüchtlinge häufig, möglichst schnell in das EU-Land mit den besten Sozialleistungen zu kommen. Es kommt auch vor, dass Migranten zwischen verschiedenen EU-Ländern hin und her reisen. Das soll jetzt erschwert werden. Flüchtlingen, die sich illegal in einem EU-Land aufhalten, sollen künftig sämtliche materielle Leistungen gestrichen werden, mit Ausnahme von medizinischer Notfallversorgung. Zudem sollen eine automatische Registrierung und eine Ausweitung der zuständigen EU-Datenbank (Eurodac) es künftig erleichtern, die Bewegungen von Flüchtlingen innerhalb der EU besser zu erfassen. Neben Fingerabdrücken sollen künftig auch Gesichtsaufnahmen abrufbar sein, um Betrug rechtzeitig vorzubeugen.
Quelle : welt.de
Tags: