Schöner Stress

  07 Mai 2016    Gelesen: 684
Schöner Stress
Wir verteufeln ihn als Krankmacher, dabei hält er uns am Leben. Höchste Zeit, unser Bild zu korrigieren.
Den Wecker überhört. Danach in höchster Eile den Kaffee über die Hose geschüttet. Auf dem Weg zum wichtigen Termin bleibt die U-Bahn zwischen zwei Stationen stehen, mitten im Tunnel. In der Bahn geht das Licht aus, irgendwo in der Menge schreit jemand plötzlich.

Wenn Sie in diesem Moment nervös werden und merken, wie der Blutdruck steigt, der Puls von innen an Ihre Schläfen klopft und Sie anfangen zu schwitzen – dann dürfen Sie sich glücklich schätzen. Denn Sie tun Ihrer Gesundheit Gutes: Sie aktivieren und trainieren Ihr Immunsystem. Sie beugen Alzheimer vor, schützen sich gegen Hautkrebs, beschleunigen die Heilung von Verletzungen. Und Sie verlängern Ihr Leben, weil die Alterungsprozesse in Ihren Zellen in diesem Moment verzögert werden. Im Prinzip absolvieren Sie spontan eine Art Wellnessprogramm – denn Sie sind im Stress. Und die Wissenschaft weiß mittlerweile: Jede Stressreaktion hat viele positive Effekte.

Dennoch hat Stress noch immer ein mieses Image. Als das Meinungsforschungsinstitut Forsa zum Jahresbeginn die Deutschen nach ihren Wünschen für 2016 fragte, erhofften sich die meisten ein "stressfreieres Leben". Bei 62 Prozent stand dieses Anliegen ganz oben auf dem Wunschzettel – als Spitzenreiter. Statistisch betrachtet, ist bei den Deutschen offenbar nichts verhasster als Stress.

Ist Stress eine Gesundheitsgefahr?

Er gilt als Ursache zahlreicher Krankheiten und als Kollateralschaden des modernen, hochtourigen Alltags. Stress wird für Schlafstörungen verantwortlich gemacht und für Depressionen. Er soll schuld sein, wenn sich Muskeln verspannen, das Gemüt überreizt ist und die Libido erschlafft. Stress führt in den Burn-out, so lautet die häufige Diagnose, sorgt für Bluthochdruck, Herzinfarkt und Magengeschwür. Kein Bösewicht muss häufiger als Ursache für diese Leiden herhalten als der Stress. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ihn sogar zu "einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts" erklärt.

Die Gegenposition zur WHO nimmt in dieser Frage Firdaus Dhabhar ein. Der Professor für Psychiatrie an der Stanford University ist zugleich Neuroimmunologe und Krebsforscher – und einer jener Wissenschaftler, die daran arbeiten, den Stress zu rehabilitieren. Stress ist für Dhabhar kein Anschlag auf die Gesundheit, sondern vielmehr ein Segen: "Mutter Natur gab uns die Stressreaktion, um uns zu helfen, nicht um uns zu töten!"

Im Jahr 2009 begann sich Dhabhar zu fragen, ob Stress gegen Krebs helfen könnte. In einem Experiment ließ er Labormäuse mit starkem ultraviolettem Licht bestrahlen, um gezielt Krebs auszulösen. Die Hälfte der Tiere hatte er vor dieser Tortur noch zusätzlich gestresst, indem er sie jeweils zweieinhalb Stunden lang in enge Plexiglasröhren sperrte. Die Resultate standen in völligem Gegensatz zu den Erkenntnissen, die Mediziner bislang als Wahrheit verkündet hatten: Der zusätzliche Stress schwächte das Immunsystem der Nager nicht – im Gegenteil, er schien es zu stärken.

Zwar entwickelten fast alle bestrahlten Mäuse nach einiger Zeit bösartige Tumoren in der Haut. Die gestressten Tiere aus der Plexiglasgruppe aber erkrankten erstens später und bildeten zweitens weniger Tumoren aus. "Akuter Stress rüttelt die Schutzmechanismen des Organismus wach", schlussfolgerte Dhabhar im Magazin Brain, Behavior, and Immunity.

Wie kann das sein? Wieso gilt Stress einmal als Killer und dann wieder als Retter? Antwort: Weil Stress eben nicht gleich Stress ist. Es kommt vielmehr darauf an, wie lange er dauert, wie das gestresste Individuum ihn subjektiv bewertet und wie es mit ihm umgeht. Unbestritten ist, dass ein Leben in pausenloser Hetze und Anspannung – also im Langzeitstress – der Gesundheit nicht zuträglich ist. Dauert Stress jedoch eine überschaubare Zeit an, dann – so hat die Wissenschaft in den vergangenen Jahren festgestellt – lassen sich plötzlich ganz andere Wahrheiten über ihn herausfinden.

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