Der Junge sei "extrem unfähig, sich in Spiele einzuleben, benutzt Spielsachen zögernd und ohne Freude, macht nicht bei den Spielen anderer Kinder mit". Von sich aus nehme Anders keinen Kontakt zu anderen Kindern auf. Beim Kaufladenspielen, so der Kinderpsychologe, interessiere ihn nur die Funktion des Kassenapparats. Auffällig sei ein aufgesetztes, abwehrendes Lächeln.
Taub gegen alles Flehen
Gibt es ein Schicksal? Und wo verbirgt es sich in der Kette von Ursachen und Wirkungen eines Lebens? Der Junge, der im Kindergartenalter den vom Jugendamt bestellten Fachleuten freud- und empathielos erscheint, wird fast dreißig Jahre später innerhalb weniger Stunden 77 Menschen ermorden, überwiegend Jugendliche bei einem Juso-Ferienlager, davon 69 aus nächster Nähe und mit Blickkontakt, taub gegenüber allem Flehen um Gnade.
Der Prolog des Buches "Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders" greift kurz voraus auf die minutiöse Erzählung des Schießens und Sterbens – und zwar jedes einzelnen Sterbens –, die das furchtbare Kernstück ausmacht. Es mag sein, dass der Leser schon diese ersten Seiten nicht aushält. Die sachlichen Beschreibungen nicht oder nicht den Satz "17 Jahre sind kein langes Leben".
Die Osloer Journalistin Åsne Seierstad rekonstruiert ein Verbrechen, eines das, wie man so sagt, "unfassbar" ist. Diese Reportage, die weit in die Vergangenheit von Täter und Opfern zurückgreifende Geschichte, ist ein Versuch der "Fassung". Einer unter mehreren möglichen, wie der juristischen, der psychologischen, der gesellschaftspolitischen.
Die literarische Methode integriert all das, aber sie erzeugt einen besonderen Zusammenhang. Es liegt im Wesen des Genres, dass unausweichlich die Frage nach so etwas Ominösem wie dem Fatum aufkommt: Wo, an welchem Punkt hätte der Massenmord verhindert werden können? Wann fiel der erste Dominostein? Wer ist schuld an Breiviks Schuld?
Überforderte Mutter
Es wäre absurd, eine direkte Kausalität zwischen den Störungen des Vierjährigen und den späteren – vom Täter selbst ausschließlich "politisch" erklärten – Morden herzustellen. Nicht jedes verhaltensauffällige Kind wird zum Terroristen. Die alleinerziehende Mutter Wenche hatte sich selbst ans Jugendamt gewandt, sie fühlte sich mit der Betreuung von Anders und dessen älterer Schwester überfordert.
Die Psychologen sahen das Problem bei der schwer depressiven und instabilen Mutter selbst und empfahlen dringend, Anders aus der Familie zu nehmen, um "einer ernsthaften Entwicklungsstörung vorzubeugen". Dazu kam es dann allerdings nicht, weil die Mutter sich ihren Sohn nicht wegnehmen lassen wollte. Der Vater, ein Diplomat, fiel für Anders als Bezugsperson vollständig aus. Die extreme Sucht nach Anerkennung beim Erwachsenen mag in dieser Leerstelle seinen Grund haben.
Der Vater als Leerstelle
In seinem parallel zum Terroranschlag versendeten Manifest "2083: A European Declaration of Independence" fordert Breivik – neben der ethnischen Säuberung des Kontinents von Muslimen und vielem anderen – die Wiederherstellung einer patriarchalen Familienstruktur; bei einer Trennung der Eltern sollten die Väter stets das Sorgerecht behalten.
Die wichtigste Frage beim Prozess gegen Breivik war die nach der Schuldfähigkeit. Psychologen gaben einander widersprechende Gutachten ab, am Ende wurde Breivik verurteilt, wie er es sich selbst gewünscht hat. Seierstad folgt in ihrer Deutung im Grunde der des jungen Psychologen Eirik Johannessen: Breiviks Kindheit und Jugend sei eine Reihe von Abweisungen gewesen, bis sich sein extremer Narzissmus schließlich in die Fantasie seines rechtsradikalen Privatordens, der "Knights Templar", hineinsteigerte, als dessen Krieger er dann in den Kampf gegen die "Kulturmarxisten" und "Multikulturalisten" zog.
Seierstad hat Nachbarskinder, Jugendfreunde und spätere Kollegen kontaktiert und kann so ein präzises Porträt zeichnen, dass Breiviks spätere Selbststilisierungen in seinem Manifest in vielen Details korrigiert.
Ordnungsfanatiker und Tierquäler
Dass er als kleiner Junge gern Tiere und Außenseiterkinder quälte, ist vielleicht weniger überraschend als seine Teenagerzeit als Graffiti-Tagger im Oslo der frühen Neunziger. Nicht nur brachte es der spätere Ordnungsfanatiker zur Könnerschaft im Umgang mit der Spraydose, er gehörte auch eine Zeit lang zum inneren Kreis der harten, coolen Jungs, und das in einer Jugendkultur, die stark von Migrantenkindern, von Somalis und Pakistanern, geprägt war.
Die Anerkennung, die er sich mit seinem Tag "Morg" erworben hatte, war aber nicht von Dauer. Sein überstarkes Geltungsbewusstsein ließ ihn, mit Hip-Hop-Jeans der Marke "Psycho Cowboy" und einem durch Pumpen und Steroide aufgemotzten Körper, als Möchtegern erscheinen, in der Sprache der Szene: als "Toy", der ein "King" sein will.
Der ewige Besserwisser
Dieses Muster sollte sich wiederholen. Nicht zufällig verdiente Breivik sein erstes richtiges Geld später mit dem halblegalen Verkauf gefälschter Universitätsdiplome im Internet. Da hatte er bereits eine Schönheits-OP hinter sich, die seine krumme, "arabische" Nase begradigte. Paradoxerweise konnte der junge Breivik auch bei der Ende der Neunziger aufstrebenden islamkritischen Fortschrittspartei nicht landen.
Auch hier fiel er durch übersteigerten Ehrgeiz unangenehm auf, ein "Organisationsfreak", der erfahreneren Mitgliedern ungefragt Ratschläge erteilte. Selbst in der "World of Warcraft"-Welt, in die er später im berüchtigten "Furzzimmer" bei seiner Mutter komplett abtauchen sollte, erlebte Breivik ein Déjà-vu: In den Kreis der richtig guten und einflussreichen Spieler schaffte er es trotz (oder vielleicht eben wegen) seiner Besessenheit nie.
Er sah sich als Märtyrer
Erst als "One man"-Widerstandsbewegung gab es für ihn keine Grenzen mehr. Er konnte so viel verquastes Zeug über die vollständige Islamisierung Europas schreiben, wie er wollte, und bei der Dimension der Bombe, die er in monatelanger Heimarbeit auf seinem abgelegenen Hof bastelte, redete ihm ebenfalls niemand rein.
Sein Planungs- und Bastelgeist, den er seit den Kaufladenexperimenten perfektioniert hatte, kannte endlich ein Ziel. Nämlich das, ihm endlich die größtmögliche Anerkennung überhaupt zu verschaffen: die eines Märtyrers bei der Errettung Norwegens, ja ganz Europas – vor dem Islam, dem Feminismus, dem Marxismus, dem Multikulti-Wahn. Den Terror bezeichnete er als Notwehr.
Der Ego-Shooter macht ernst
Åsne Seierstad ist eine toughe Frau. Sie war Kriegsreporterin in Afghanistan, Tschetschenien und im Irak. Und was sie an jenem 22. Juli 2011 zu beschreiben hat, ähnelt einem Krieg. Dem Krieg eines schwer bewaffneten Ego-Shooters mit unbegrenzter Munition gegen wehrlose Jugendliche. Ein wahnwitziges Detail, dass Breivik sich gegen die ursprünglich geplante Füllung seiner Patronen mit reinem, hochgiftigem Nikotin entschied, weil das gegen die Genfer Konventionen verstoßen hätte!
Seierstad will nicht nur ein Breivik-Porträt schreiben, sie zählt auch mit Verbitterung die absurden Pannen der Osloer Polizei auf, die mit schnellerem, weniger beamtenhaft-trägem Vorgehen die Flucht Breiviks vom Bombenanschlag im Regierungsviertel oder wenigstens einen Teil des Utøya-Massakers hätte verhindern können. Was dieses Buch zu einem Meisterstück literarischer Reportage macht, ist aber etwas anderes: Es nimmt sich wirklich Zeit, die Geschichten der Opfer zu erzählen.
Das kurze Leben der Bano Rashid
Etwa die von Bano, der Tochter kurdischer Einwanderer aus dem Irak. Die vom Maschinenbauer Mustafa und seiner Frau Bayan, einem jungen Paar aus Erbil, von Straßenschlachten dort, bei denen Mustafa sein vierjähriges (!) Mädchen im Keller auf dem Arm hält, während oben Kugeln pfeifen, von der Ausreise nach Moskau, dem Asylantrag in Norwegen, den Diskriminierungen der Kinder in der Schule und von ersten Schritten gelungener Integration.
Als 17-Jährige wird Rashid in ihrem kleinen Ort Vorsitzende der Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. In ihrem ersten Leserbrief an "Aftenposten" wendet sich Bano gegen den Begriff "schleichende Islamisierung" durch die Fortschrittspartei. Es gibt ein Foto von Bano in der Bunad, der norwegischen Nationaltracht, die sie von ihrem Ersparten gekauft hat. Am 22. Juli wird Bano, 18 Jahre alt, in Utøya auf dem "Pfad der Verliebten" mit mehreren Kopfschüssen getötet.
Erschütternd und trostlos
Diese und andere Lebensgeschichten, Geschichten von unbegreiflich kurzen Leben, stellt Seierstad neben das narzisstische, selbstherrliche Politikgeschwafel Breiviks. "Einer von uns" ist ein erschütterndes, trostloses Buch. Die Lektüre ist oft nicht zu ertragen. Es ist ein Buch, bei dem die Autorin auf jeder Seite um Fassung ringt und der Leser mit ihr.
Wozu das lesen, wenn es doch sinnlos endet? Was hilft es denn, wenn wir lernen, wie es zu alldem kam? Neben all dem Leid, dem Tod, der Trauer bleibt eine Idee, nennen wir sie Banos Idee. Anders Breivik hat seine Schlacht gegen diese Idee gewonnen, es fiel ihm nicht schwer. Seinen Krieg wird er verlieren, auch wegen Büchern wie diesem.
Quelle : welt.de
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