Sie hat eine Dreiviertelstunde Fahrt nach Kaiserslautern vor sich, über schmale, meist zweispurige Straßen. Die junge Frau lässt den Motor an. Durch die Windschutzscheibe blickt sie auf den imposanten Felsen, der sich hoch oben über ihrem Dorf Ruppertsweiler im Wald abzeichnet. Dann steuert Bergner den Nachbarort an, um die kleine Paulina, 4, und ihren Bruder Philipp, 6, noch in die Kita zu bringen. Ihr Mann Steffen, 38, macht sich mit seinem Wagen auf den Weg zur Arbeit.
Südwestpfalz hat Deutschlands niedrigstes BIP
Millionen Deutsche pendeln jeden Tag zu ihrem Arbeitsplatz, etwa jeder zweite arbeitet nicht an seinem Wohnort, zeigt eine Studie des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Den "Wunsch nach bezahlbarem Wohnraum oder beruflichem Aufstieg" machen die Autoren als Gründe dafür aus.
Bei den Bergners kommt noch ein weiterer dazu: Sie haben keine andere Wahl. Ihr Dorf liegt in dem Landkreis Deutschland, der in gewisser Hinsicht der ärmste ist im ganzen Land: der Südwestpfalz. Unternehmen gibt es hier fast keine mehr, Arbeitsplätze nur noch wenige, und die Wirtschaftsleistung (BIP) pro Kopf beträgt 14.473 Euro – weniger als in allen Kreisen Ostdeutschlands und weniger auch als in Griechenland. Junge Leute haben die Region zu Tausenden verlassen. Wer geblieben ist, muss zur Arbeit pendeln.
Sozial- und Umweltpolitiker kritisieren das massenweise Berufspendeln scharf. In dieser Woche erst forderte der Sachverständigenrat für Umweltfragen die Bundesregierung dazu auf, "die Subventionierung des Flächenverbrauchs zum Beispiel durch die Pendlerpauschale zu beenden". Aus Sicht der Berater von Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) führt die "erhöhte Pendlermobilität häufig zu mehr innerstädtischem Verkehr, beeinträchtigt damit die Lebensqualität in Ballungsräumen und unterstützt die Zersiedelungseffekte". Der DGB warnt vor einem "permanent erhöhten Stresslevel durch lange Zeiten im Berufsverkehr", die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit würden häufig unterschätzt.
Ein 800-Quadratmeter-Grundstück – in der Großstadt unmöglich
Dem gegenüber stehen positive wirtschaftliche Auswirkungen des Pendelns. In der Südwestpfalz und manch anderer Region wäre das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse, wie es das Grundgesetz vorsieht, anders nicht erreichbar. Nur weil die Menschen so viel Zeit im Auto verbringen, beträgt die Arbeitslosenquote in der Südwestpfalz gerade einmal 4,4 Prozent. Mehr als 70 Prozent der Beschäftigten pendeln zur Arbeit über die Kreisgrenze. Manche von ihnen fahren bis zu 300 Kilometer am Tag, damit sie im Wald wohnen können, zwischen den roten Sandsteinfelsen, wo es im Sommer nach Pfifferlingen riecht und im Herbst nach Laub.
Steffen Bergner fährt hier jeden Dienstagabend Mountainbike mit Freunden, gern auf dem Fatbike, einem Rad mit extrem breiten Reifen, das Sprünge über Baumwurzeln oder Felsen sanft abfedert.
Die Großeltern der Kinder wohnen in der Nähe und holen ihre Enkel regelmäßig aus der Kita ab. Und die Bergners mit ihren beiden Gehältern können sich Dinge leisten, von denen Familien in Großstädten nur träumen können. Ihr 800-Quadratmeter-Grundstück beispielsweise, auf dem das Trampolin und die Schaukel kaum auffallen. "Wir haben dafür nicht einmal 50 Euro pro Quadratmeter bezahlt", freut sich der Automatisierungsingenieur.
Die Region lebte einst von den Schuhfabriken
Die Geschichten der Arbeiter aus dem Pfälzerwald, die in Fahrgemeinschaften frühmorgens zum Daimler-Werk nach Stuttgart aufbrechen und sich am Wochenende gegenseitig beim Bau riesiger Einfamilienhäuser helfen, kennt Hans Jörg Duppré gut. Der 71-Jährige ist seit 1979 Landrat in der Südwestpfalz. Sein Schreibtisch steht in einem Zweckbau vom Typ Sparkasse, mit Neonröhren an der Decke und Gummibäumen in tonkugelgefüllten Kübeln. Ironischerweise liegt das Gebäude in der Stadt Pirmasens, die mitten im Kreis liegt, aber nicht dazuzählt. Statistisch ist also sogar der Landrat ein Pendler.
Als Duppré Ende der 70er-Jahre in die Region kam, arbeiteten die Männer und Frauen noch in den Dörfern. Die Region lebte von Schuhfabriken, die so geringe Löhne zahlten, dass die Kinder direkt nach der Volksschule mitarbeiten mussten, um das Familieneinkommen zu sichern. Mancherorts waren die Arbeitsbedingungen in den Klebstoff- und Lösemitteldämpfen miserabel.
Dann zogen die Schuhfabriken weg, in Italien waren Arbeiter billiger. Es blieben leere Gebäude und giftige Reste. Als im Dorf Lemberg, wo Philipp Bergner vom Sommer an in die Schule gehen wird, ein Spielplatz gebaut wurde, förderten die Bagger chemiegetränkte Lederfetzen zu Tage – vergraben mitten im Ort.
Mit dem Niedergang der Schuhindustrie begannen die Südwestpfälzer, ihre Region zu verlassen. Manche für immer, andere als Pendler. Noch bremste aber der Kalte Krieg den wirtschaftlichen Absturz. Im ganzen Kreis entstanden Stützpunkte der US-Armee, mit Bunkern, einem Militärhospital, Munitionsdepots. Viele Soldaten wohnten bei privaten Vermietern, sie zahlten in harten Dollar. Jobs für deutsche Zivilisten gab es auch in den Lagern. Bis zum Mauerfall – dann zogen die Amerikaner ab.
Im Durchschnitt hat jeder Betrieb nur sieben Mitarbeiter
Heute bleibt Wegziehen – oder Pendeln. Eine Entwicklung, die Duppré trotzdem als Erfolg interpretiert. "An die Stelle der einseitigen Abhängigkeit von der Schuhindustrie", sagt er, "ist heute eine diversifizierte Wirtschaft getreten." Besonders stark ist die aber nicht. Im Durchschnitt hat jeder Betrieb nur sieben Mitarbeiter, so wenige wie nirgendwo sonst in Deutschland.
Größere Firmen gibt es nur in Pirmasens und Zweibrücken. "Dass die beiden kleinen kreisfreien Städte nicht dazuzählen, führt zu starken statistischen Verzerrungen", sagt Heiner Röhl, Regionalexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Viele Pendler arbeiten dort. "Gäbe es in Rheinland-Pfalz eine Kreisreform, ähnlich wie in Mecklenburg-Vorpommern, dann würde die Region bei der Wirtschaftskraft insgesamt zu den schwächeren Ostkreisen aufschließen."
Einer der wenigen Einpendler in den Kreis ist Mike Marke, 45, Chef der gleichnamigen Schuhhandelskette. Er sitzt in einer modernen Firmenzentrale aus Glas und Stahl mit angeschlossenem Lager am Ortseingang von Hauenstein, Werbespruch: "Schuh- und Wanderdorf". Nach vorne blickt Marke über die zweispurige Bundesstraße 10 auf Sandsteinfelsen, nach hinten auf den Wald.
Die Familie stammt aus dem Ort, er selbst hat in Frankfurt als Banker gearbeitet und wohnt heute in Kaiserslautern. "Hauenstein ist zentral für uns als Unternehmen", sagt Marke dennoch. Seine 22 Schuhgeschäfte liegen zwischen Mannheim und Luxemburg, er beschäftigt 250 Mitarbeiter und erzielt einem Jahresumsatz von 36 Millionen Euro. Sein wichtigstes Haus ist das in Hauenstein. "Es ist aber auch das mit den größten Problemen", gibt er zu.
Kann die B10 den demografischen Wandel stoppen?
Was auch an der schmalen B10 liegt, die ihm seine Kunden bringt und über die sich morgens und abends die Pendler in die Rheinebene quälen. Weil die Straße seit Jahren ausgebaut wird, muss sie am Wochenende gelegentlich gesperrt werden – was dann den Kundenstrom in Markes Laden, der auch sonntags geöffnet ist, fast zum Erliegen bringt.
Für die Landtagsabgeordnete Susanne Ganster, die auch die CDU-Fraktion im Kreistag führt, ist die Straße eines der wichtigsten politischen Themen. Auf Facebook hat sie Fotos vom Baufortschritt hochgeladen; im Januar stapfte sie zwischen Schneeflocken über die frisch geteerte Piste. "Wir brauchen eine bessere Verkehrsanbindung und eine gute Breitbandversorgung", sagt die 39-Jährige mit vorderpfälzischem Akzent, und sie hat dabei nicht nur die Pendler im Sinn.
"Dann ziehen auch mehr Leute in die Region, die die Lebensqualität hier zu schätzen wissen." Ihre Nachbarn beispielsweise seien aus Dresden in den Pfälzerwald gezogen, hätten gute Jobs gefunden – und seien nicht nur von der Natur begeistert, sondern auch davon, dass sie sofort einen Kitaplatz im Dorf bekommen haben. Auch Ganster und ihr Mann sind zugezogen, um hier für die katholische Kirche zu arbeiten.
Dass eine vierspurige B10 die Bewegung aus der Südwestpfalz umkehrt, ist jedoch nicht zu erwarten. IW-Forscher Röhl sieht solche Projekte daher skeptisch: "Der Ausbau kann der regionalen Wirtschaft schon helfen, aber den demografischen Wandel kaum stoppen." Das habe man auch beim Aufbau Ost gesehen. Knappe Mittel für Infrastrukturprojekte sollten eher dorthin fließen, wo Probleme mit Arbeitslosigkeit herrschen – was in der Südwestpfalz nicht der Fall ist. Im Gegenteil. "Wir haben Schwierigkeiten, Mitarbeiter zu finden", sagt Unternehmer Marke. Die Jobs im Einzelhandel, verknüpft mit Sonntagsarbeit, seien eben "nicht jedermanns Sache".
Jugend lässt sich schwer für die Region begeistern
Selbst für die wenigen Unternehmen reichen die verbliebenen Arbeitskräfte nicht aus. "Wir haben eine Arbeitskräftelücke, die sich weiter verschärft", sagt Andreas Knüpfer von der Industrie- und Handelskammer (IHK) in Pirmasens. Der Kreis versucht, junge Leute in der Region zu halten. "Unsere Wirtschaftsförderung bemüht sich, die Schulen stärker in Kontakt mit lokalen Unternehmen zu bringen", sagt Ganster. Die IHK berät Firmen in Sachen Ausbildung und beruflicher Qualifizierung. Auch Marke investiert in Mitarbeiterentwicklung und Coaching und hat Kontakt zur Universität in Landau. "Die Leute nach dem Studium für eine Karriere bei uns zu begeistern ist trotzdem schwer", sagt Marke.
Was auch an den vielen Einzelhandelsjobs in Zweibrücken liegen kann. Dort steht auf dem Gelände eines ehemaligen US-Militärflughafens Deutschlands größtes Designer-Outlet-Center, eine Modeschnäppchenwelt von amerikanischen Ausmaßen – schmucklose, einstöckige Gebäude, die eine riesige Fußgängerzone umgeben, allein der Parkplatz ist kaum überschaubar.
3000 Arbeitsplätze sind auf dem Gelände insgesamt entstanden. Die Wirtschaftsleistung aber fließt nur zur Hälfte in die Kreisstatistik ein, weil die Firmen auf dem Gebiet der kreisfreien Stadt liegen. "Leider stößt das Outlet mit seinen 120 Läden aber an seine Grenzen", sagt Duppré. Ein Vertrag mit den Nachbarstädten limitiert die Ausdehnung der Shoppingwelt.
Bunker als Touristenattraktion
Im Landkreis verwildern dagegen viele alte Militärgelände. Auch im Heimatort der Bergners lebten US-Soldaten mit ihren Familien. Wenn Steffen Bergner mit seinem Fatbike heute über den Berg Arius radelt, dann liegt tief unter ihm ein Bunker, der als Nato-Befehlsstand im Kriegsfall dienen sollte. 4800 Quadratmeter Nutzfläche hat die Anlage, die bis zu zehn Meter hohen Hallen warteten jahrelang besenrein auf Investoren. Jetzt wird der Eingang zubetoniert. Es ist kein Käufer in Sicht.
Die ältesten Verteidigungsanlagen zumindest sorgen für ein paar Tourismusjobs, zu denen die Südwestpfälzer nicht pendeln müssen. Auf jedem größeren Felsen stand im Mittelalter eine Ritterburg. Davon sind eine Menge Ruinen übrig, die Dahner Burgen etwa oder der wiedererrichtete Berwartstein.
Aus der Sicht von Kindern sind nicht nur die Burgen riesige Abenteuerspielplätze. Der kleine Philipp Bergner liebt es, mit seinem Vater auf dem Rad durch den Wald zu fahren oder mit dem Großvater "Holz zu machen", wie sie hier sagen. "Er wird", sagt seine Mutter Madeleine, "bestimmt einmal in der Region bleiben" – soweit man das bei einem Sechsjährigen vorhersagen könne.
Das wäre eine gute Nachricht für Landrat Duppré. Seine eigenen drei Kinder haben den Pfälzerwald nach dem Abitur verlassen. Sie leben heute in Freiburg und Heidelberg.
Quelle : welt.de
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