Geld statt Decken?

  23 Mai 2016    Gelesen: 820
Geld statt Decken?
Die Zeiten großer Hilfslieferungen nach Katastrophen sind womöglich vorbei. Der UN-Nothilfegipfel in Istanbul diskutiert ab heute das Prinzip, Geld zu geben, statt Sachleistungen wie Decken, Zelte und Lebensmittel zu spenden. Ein Paradigmenwechsel in der Nothilfe?

Ob Irak, Haiti oder Nepal - es sind immer wieder die gleichen Bilder, die nach Katastrophen wie Erdbeben um die Welt gehen. Tonnen von Hilfsgütern werden verpackt und verladen, um an den Ort des Unglücks transportiert zu werden. Die Kosten dafür sind hoch: Material und Mitarbeiter müssen bezahlt werden, und das bei erheblichem Zeitaufwand.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon spricht sich jetzt dafür aus, als erstes Hilfsmittel vor allem Geld einzusetzen. In Nepal beispielsweise verzeichnet die Hilfsorganisation WorldVision mit dieser Vorgehensweise gute Erfolge. Wer sich am Wiederaufbau beteiligt, wird dafür entlohnt und kann sich seinerseits besser selbst helfen. In Somalia, wo die Menschen häufig unter Dürren leiden, bekommen Frauen für den Bau von Regenauffangdämmen Geld. Deutsche Hilfsorganisationen insgesamt können dem Prinzip "Geld statt Decken" einiges abgewinnen.

Cornelia Füllkrug-Weitzel, seit 2012 Präsidentin der Diakonie Katastrophenhilfe sowie von "Brot für die Welt", sieht gute Chancen, die Nothilfe anders als bisher auszurichten: "Je länger zum Beispiel eine Flucht dauert, desto unsinniger und teurer ist es, Flüchtlinge mit Hilfspakete zu versorgen, statt sie sich selbst versorgen zu lassen. Dazu braucht es erst Geldmittel und dann Zugang zum Arbeitsmarkt."

Füllkrug-Weitzel beruft sich auf internationale Studien und hält Bargeldtransfers in Form von Gutscheinen oder Geldkarten für das "effektivste Mittel, um die Not der Menschen zu lindern". Sie weiß aber auch: "Das geht nur bei vorhandener und intakter Infrastruktur - also nicht unmittelbar nach Erdbeben."

Die Strukturen müssen stimmen

Karl-Otto Zentel, Generalsekretär von Care Deutschland-Luxemburg, betont: "Sinnvoll sind Bargeldhilfen dort, wo die lokalen Märkte noch weitgehend funktionieren. Die Kapazitäten der Märkte müssen genau beobachtet werden, um sicherzustellen, dass die Preise auch bei Bargeldhilfen stabil bleiben."

Ein Mindestmaß an Infrastruktur setzt man auch bei WorldVision voraus. "Wenn die Regale leer sind, bringt es nichts, Geld zu geben", sagt Stefan Hagelüken, Referent für Humanitäre Hilfe, und fordert begleitende Maßnahmen. Um steigende Preise zu verhindern, sei es sinnvoll, Monopole aufzubrechen, mit den Händlern Verträge abzuschließen oder die Verteilung des Bargeldes nicht an einem Tag durchzuführen, sondern zu entzerren.

Bislang war die Bereitschaft gering, mit Geld zu helfen. Die US-Denkfabrik "Zentrum für Globale Entwicklungen" kam im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass nur sechs Prozent der Hilfsgelder bar ausgezahlt werden.

Viele Organisationen wollen die Unterstützung mit Geld erheblich ausbauen und planen, 2030 die Hälfte aller Hilfen in Form von Geldleistungen zu erbringen. Wachsender Kostendruck und wachsende Ansprüche an die Effizienz dürften bei solchen Entscheidungen eine Rolle spielen. Die Diakonie Katastrophenhilfe setzt bereits 14,2 Prozent ihrer Mittel von aktuell rund 54 Millionen Euro in Projekten mit Bargeldzahlungen ein.

"Unvorstellbare 17 Jahre in Aufnahmelagern"

Auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hält Geldzahlungen in bestimmten Situationen für das Mittel der Wahl. Um syrische Flüchtlinge in Jordanien, der Türkei, im Irak und im Libanon zu versorgen, unterstützt das BMZ über das Welternährungsprogramm die Ausgabe von Guthabenkarten für den Kauf von Lebensmitteln.

Im Nordirak hat das Ministerium gerade bei der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit ein Projekt für die Beschäftigung von 15.000 Syrern und irakischen Binnen-Flüchtlingen in Auftrag gegeben.

Minister Gerd Müller legt vor allem Wert darauf, für Einheimische wie Flüchtlinge Perspektiven zu schaffen: "Zelt, Decken und ein Essenspaket - das stellen die meisten Menschen sich wohl erst einmal unter Hilfe für Flüchtlinge vor. Doch im Schnitt verbringen Menschen auf der Flucht nicht ein paar Wochen, sondern unvorstellbare 17 Jahre in Aufnahmelagern oder Gastgemeinden." An die Nothilfe müsse sich unmittelbar Entwicklungsarbeit anschließen, auch um zu verhindern, dass Gastfreundschaft in Feindseligkeit umschlage.

Eine Frage der Würde

Vor einigen Jahren sei noch viel über mögliche Nachteile der Geldzahlungen diskutiert worden, sagt Hagelüken von WorldVision. Schließlich lässt sich mit Geld eben alles kaufen - nicht nur Reis, Mehl und Öl, sondern auch Sex, Drogen und Alkohol.

Der befürchtete Missbrauch aber hätte sich prinzipiell nicht bestätigt. Nachfolgeuntersuchungen, wie etwa Messungen des Armumfangs bei Kindern in Südsudan, Simbabwe oder Somalia, ergaben, dass das Geld überwiegend zum Wohl der Familie eingesetzt wurde.

Hagelüken rät zur Differenzierung: "Sachgüter können leicht gestohlen oder zweckentfremdet oder eben auch zu Geld gemacht werden. Hilfskonvois mit begehrten Ladungen an Lebensmitteln oder Werkzeugen werden eher zum Ziel von Angriffen, als Helfer mit personalisierten Geldkarten oder Gutscheinen." Ob Hilfsmaßnahmen ihren Zweck erfüllten, hänge vor allem davon ab, wie gut das Programm gestaltet sei und ob die Hilfe früh genug einsetze und lange genug anhalte.

Vor allem aber betonen die Helfer - von welcher Organisation auch immer - gehe es bei alldem um die Würde und die Selbstbestimmung der Betroffenen. "Die Menschen bekommen, was sie wirklich brauchen, und nicht das, was wir denken, was sie brauchen“, sagt Owen Barder vom "Zentrum für Globale Entwicklungen".

Kritik an Idee und Umsetzung

Der Journalist Kurt Gerhardt, lange Zeit für die Entwicklungshilfe in Afrika tätig, spricht sich dagegen dafür aus, bei dem Prinzip der Sachleistung zu bleiben. Geld schaffe Begehrlichkeiten. Häufig handelten afrikanische Regierungen ohnehin aus dem Interesse heraus, vor allem die eigene Macht erhalten zu wollen. Die Entwicklung des Landes und der Bevölkerung sei für diese Regierungen zweitrangig.

Axel Dreher, Professor für Internationale Wirtschafts- und Entwicklungspolitik in Heidelberg, hält den Schritt zu mehr Bargeld für überfällig, aber kaum umsetzbar. Vor allem glaubt er, dass die Interessen der Geberländer dem im Wege stehen: "Die Geber müssen die Höhe ihrer Hilfe rechtfertigen - vor Spendern oder Steuerzahlern. Hilfe muss daher immer auch sichtbar sein. Ohne vorzeigbare Erfolge könnten die Gelder schnell versiegen."

Im Interesse der Geberländer sei es auch, so Dreher, dass die eigene Wirtschaft von der Hilfe für andere profitiert. Dieses Ziel sei leichter zu erreichen, wenn es um Sachleistungen geht. Selbst wenn beim UN-Nothilfegipfel in Istanbul ein Großteil der Bedenken ausgeräumt werden sollte, sieht Dreher ein weiteres Problem: Wer soll wo über die Vergabe der Gelder entscheiden?

Drehers Antwort ist eindeutig: "Prinzipiell sollten die betroffenen Länder mit demokratisch legitimierten Regierungen selbst entscheiden, nicht die Geberländer. Das aber würde allerdings einen guten Teil der Entwicklungsindustrie ohne Aufgabe zurücklassen." Schließlich reduziere sich die Rolle der Geberländer dann tatsächlich auf das Geben, auf eine einfache Überweisung an die Regierung im Krisenland. Ein über Jahrzehnte aufgebauter und aufgeblähter Apparat werde dann nicht mehr benötigt, was kaum im Interesse der hiesigen Politiker und Entwicklungshelfer sei.

Dreher kommt zu dem Schluss: "Die Chancen für das Prinzip `Geld statt Decken` stehen schlecht."

Quelle: tagesschau.de

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