In den Akten der Behörden stehe, A. sei 22 Jahre alt, bei der Festnahme habe er sich dann doch als 23 Jahre ausgegeben. Nein, nein, sagt A., bei seiner ersten Registrierung in Deutschland habe der Dolmetscher ihn falsch verstanden. Und später habe er aus Angst einen falschen Namen und ein falsches Datum angegeben.
Eine Geburtsurkunde gibt es nicht. Nun setzt der Staatsanwalt nach: "Wenn Sie es selbst nicht so genau wissen, wie kommen Sie dann auf 20 Jahre?" A. antwortet: "Als Hamid Karzai 2001 zum Präsident gewählt wurde, war ich noch klein. Ich habe hochgerechnet, ich muss jetzt also 20 sein." Er stockt, dann sagt er: "Ich würde auch gerne wissen, wie alt ich genau bin." Der Richter: "Ich auch."
Versuchter Totschlag in einer Flüchtlingsunterkunft
Der Dialog dauert fast eine Viertelstunde, denn es ist ein Knackpunkt des Verfahrens. Tag 1 der Hauptverhandlung, es geht hier um viel, um versuchten Totschlag in einer Flüchtlingsunterkunft. Ist A. 20 Jahre oder jünger, wird er nach Jugendstrafrecht beurteilt, die Chancen auf eine mildere Strafe steigen.
Die Episode zeigt aber auch mustergültig die Fallstricke, die lauern, wenn Flüchtlinge mit der deutschen Justiz in Berührung kommen. Bisher lernten viele Migranten und Flüchtlinge vor allem den lenkenden, exekutiven Arm des Landes kennen: Sie wurden von Polizisten am Bahnhof empfangen, Beamte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge entschieden über ihre Zukunft, Mitarbeiter der Erstaufnahmen wiesen ihnen den Platz in der Essensschlange zu, Sicherheitsleute in schwarzen Bomberjacken sollten sie schützen.
Nun also – für einige wenige – Staatsanwälte und Richter, die angehalten sind, den "sozio-kulturellen Hintergrund" eines Angeklagten einzubeziehen und gleichzeitig das deutsche Gesetz konsequent anzuwenden, denn ein Totschlag bleibt ein Totschlag, egal, wer auf der Anklagebank sitzt. Doch abseits davon liegt eine Grauzone, da geht es um die Frage der Glaubwürdigkeit eines Angeklagten und wie diese vor Gericht bestimmt wird.
Ein Tag im Hamburger Strafjustizgebäude zeigt: In diesen Prozessen prallen Welten aufeinander, eine andere Herkunft und Denkweise auf ein durchstrukturiertes deutsches Verfahren. Das kann nicht gut gehen. Oder doch?
Die Anklage wirft dem afghanischen Asylbewerber vor, im Oktober 2015 mit einem Teleskopschlagstock und den Worten "Ich bring dich um" auf den Iraner Amir H. eingeprügelt zu haben – wohl vor allem, weil dieser zum Christentum konvertiert sei. Mohebolla A., dunkelblauer Pulli, glatt rasiert, Alter also unklar, sitzt zwischen seinem Anwalt und der Dolmetscherin und lässt eine Erklärung verlesen. Es sei kein Religionsstreit gewesen, er habe nichts gegen Christen.
"Mein Vater war Polizist und kämpfte jeden Tag gegen die Taliban. Vor ihnen bin ich geflohen und jetzt beschuldigt Deutschland mich, einen Christen töten zu wollen? Das passt doch nicht zusammen." Die Gemengelage in einem afghanischen Dorf nachprüfen? Schwierig für die Behörden, schwierig für ein Gericht, kaum brauchbar also für oder gegen die Glaubwürdigkeit des Angeklagten.
Opfer erleidet Gehirnerschütterung und Platzwunden
Nach seinen Worten hat sich die Geschichte so zugetragen: In der Unterkunft am Hörgensweg, einem ehemaligen Baumarkt, lebt er mit Amir H. Bett an Bett, er weiß, dass das Opfer Christ ist. Zwei Tage vor der Tat kommt es zu einer Schlägerei zwischen ihm und dem Iraner in der Essensschlange. Am 18. Oktober dann trinkt er einen Tee vor der Einrichtung, schlendert zurück in die Halle und trifft am Eingang auf das Opfer und zwei Männer.
Er erhält einen Schlag auf die Schulter, wehrt sich gegen die Männer, schlägt dem Opfer ins Gesicht. Dann lag im Getümmel plötzlich ein Schlagstock am Boden, benutzt habe er ihn aber nicht. Das 24-jährige Opfer erleidet eine Gehirnerschütterung und Platzwunden, Mohebolla A. flieht und wird später festgenommen.
Um 14 Uhr starren alle auf die Tür des Saals, das Opfer ist als Zeuge geladen. Doch das Gericht wartet vergebens. Der Geschädigte steht nicht zur Verfügung, er hat sich in Bielefeld vorab von einem Richter vernehmen lassen. Jetzt ist er in den Iran zurückgekehrt, in das Land, aus dem er mal geflohen war. In vielen Herkunftsländern ist es völlig unüblich, andere öffentlich zu belasten und auszusagen.
Es rächt sich zu oft, der Staat kann seine Bürger nicht schützen. Scheinbar hatte Amir H. auch kein Vertrauen in seine neue Heimat. Dann hat der Rechtsstaat für diesen Tag Feierabend, kommende Woche wird weiterverhandelt.
Man kann Amir H. leider nicht fragen, was ihn dazu gebracht hat, ausgerechnet wieder in den Iran zurückzukehren anstatt den Prozess in Hamburg durchzustehen. Vor dem Saal steht seine frühere Betreuerin, die 56-Jährige bezeichnet sich selbst als wiedergeborene Christin, sie hat ihn nach der Schlägerei privat bei ihrer Familie aufgenommen.
"Es tat mir so unendlich leid, dass er nach den Erfahrungen im Iran nun auch hier in Deutschland verfolgt wurde." Amir habe große Angst vor der Verhandlung gehabt, Sorge vor einer milden Strafe für den mutmaßlichen Täter. Angst vor Rache. Sie sagt: "Ich bete für ein gerechtes Urteil." Überzeugt klingt es nicht.
Deutsche Gesichtspunkte als Maßstab
Viele Anwälte für Asylrecht, mit denen man spricht, berichten von ähnlichen Hürden im System. Die Rechtsanwältin Insa Graefe arbeitet bei der kirchlichen Hilfestelle "Fluchtpunkt" und berät dort Asylbewerber und Flüchtlinge in Rechtsfragen. Sie sagt: "Wir erleben häufig, dass die Behörden die Zustände und Gewohnheiten in den Herkunftsländern unter sehr `deutschen` Gesichtspunkten beurteilen."
Im Iran die Polizei zu rufen ist nicht vergleichbar damit, in Hamburg die 110 zu wählen. Sich zu weigern, vor Gericht über die Schwester zu sprechen, muss nicht heißen, dass der Angeklagte etwas verbergen will. Dazu kommt, sagt Graefe: Exakte Zeitangaben, die genaue Wiedergabe vergangener Ereignisse, präzise Erklärungen seien Kulturen wie der afghanischen eher fremd. Im Asylverfahren oder vor Gericht hänge aber die Glaubwürdigkeit der Menschen ganz entscheidend davon ab.
Ein Problem, das manchmal schlicht nicht gelöst werden kann. Sie erzählt von einem homosexuellen Asylbewerber, der sich weigerte, bei seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Beisein eines Dolmetschers, einem Landsmann, auszusagen. Er fürchtete, sein Geheimnis könnte sich in der "community" rumsprechen. Selbst in Deutschland blieb die Angst, geächtet zu werden. Sein Asylantrag wurde abgelehnt.
Auch in einem anderen Saal des Strafjustizgebäudes wird der Rechtsstaat an diesem Tag auf die Probe gestellt. Die Kieler Studentin Rike M. sitzt auf dem Zeugenstuhl und quält sich durch eine Silvesternacht, die sie am liebsten vergessen würde; das Gedränge an der Großen Freiheit, getrennt von den Freundinnen und dann plötzlich der Mann, der sagt "I will help you" und sie stattdessen um die Hüfte greift, festhält für die vielen Hände, die sie anfassen, überall.
Fünf Meter weiter rechts sitzt der Angeklagte, den sie auf den Bildern der Polizei erkannt haben will: Der afghanische Flüchtling Ghafur N. ist der Erste, der sich vor Gericht für die Silvester-Übergriffe in Hamburg verantworten muss. "Nicht zu einem Prozent" stimmen die Vorwürfe, sagt er.
Viel Druck lastet auf diesem Verfahren, die Anklage lautet: Sexuelle Nötigung und Beleidigung, darauf stehen mindestens zwei Jahre Gefängnis. Ist er schuldig, dürfte er abgeschoben werden. Der deutsche Staat ist an diesem Tag weiblich, Richterin, Staatsanwältin und Protokollantin, vielleicht ist es ein Zufall, vielleicht nicht. Doch je länger die Zeugin aussagt, desto unschärfer wird das Bild des Täters. Die Studentin erinnert sich an einen großen Mann mit dunklem Teint, zwischen 180 und 190 Zentimeter groß, der Angeklagte misst laut Gericht nur 169 Zentimeter.
Kurz vor der Mittagspause sagt die Richterin: "Wir sehen die Gesamtsituation als sehr schwierig und unübersichtlich an." Drei Stunden später werden Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidiger geschlossen Freispruch fordern. Der Mann, der die Studentin bedrängt hat, wird womöglich nie gefunden werden.
Die Richterin schließt ihr Urteil mit: "Auch die Übergriffe an Silvester ändern nichts daran, dass die nachgewiesene Schuld des Einzelnen und die Überzeugung des Gerichts davon ausschlaggebend sind." Ghafur N., zweifacher Familienvater, ist frei und erhält etwa 3000 Euro Entschädigung für vier Monate Untersuchungshaft. Die letzten Worte gehören ihm: "Ich freue mich, dass die Wahrheit herausgekommen ist." Und dann dankt er dem Gericht ausdrücklich.
Quelle : welt.de
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