Die Zahl der Asylbewerber aus Tschetschenien hat sich stark erhöht. Das erklärte das Bundesinnenministerium auf Anfrage der "Welt". Demnach stieg die Anzahl der Eingereisten aus der Russischen Föderation in den vergangenen Monaten deutlich an. Im April landete Russland bei den Hauptherkunftsländern von Asylbewerbern bereits auf dem fünften Platz.
Nach Zahlen des Bundesinnenministeriums gaben zwischen Januar und 23. Mai 82,3 Prozent der russischen Erstantragssteller unter ethnischer Zugehörigkeit "tschetschenisch" an. Insgesamt waren das 2244 von 2728 Asylbewerbern. Von den 335 Russen, die einen Folgeantrag in diesem Zeitraum stellten, lag der Anteil der Tschetschenen sogar bei 87,2 Prozent.
Bereits seit der zweiten Jahreshälfte 2015 ist laut einem Sprecher des Innenministeriums ein erhöhter Zugang von Flüchtlingen aus Russland zu verzeichnen. Monatlich wurden demnach etwa 800 bis 1200 Asylsuchende im sogenannten Easy-System gezählt. Nach einem deutlichen Rückgang im Januar auf unter 600 ist die Zahl wieder auf das Vorjahresniveau gestiegen und lag im April bei 915. Die Easy-Datenbank zeigt am ehesten einen Echtzeitstand, weil hier auch Einreisende aufgenommen werden, bevor sie einen Termin für das offizielle Stellen eines Antrags erhalten.
Einreise erfolgt meist über Polen
Die Anerkennungsquote für Asylbewerber aus der Russischen Föderation ist jedoch gering. Wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf Anfrage der "Welt" erklärte, lag die Gesamtschutzquote in den ersten vier Monaten des Jahres lediglich bei 5,8 Prozent. Der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Ole Schröder (CDU), fordert in diesem Zusammenhang, dass die Dublin-Verordnung "konsequent angewendet wird". Diese Vereinbarung sieht vor, dass ein Asylbewerber seinen Antrag in dem EU-Land stellen muss, das er als erstes betreten hat. "Asylbewerber aus Tschetschenien reisen meistens über Polen in die EU ein und müssen dorthin zurückgeführt werden", sagt Schröder.
Ursachen für die erhöhte Zuwanderung sind der Bundesregierung derzeit nicht bekannt. "Konkrete Erkenntnisse zu den Gründen liegen nicht vor", erklärte das Innenministerium. Auch aus der Bundespolizei hieß es, Ursachen seien nicht bekannt. Nach hiesiger Erkenntnislage habe sich die Situation in der Russischen Föderation "nicht gravierend verschlechtert".
Die russische Republik Tschetschenien liegt im Nordkaukasus. Die Lebensverhältnisse in dem von zwei Bürgerkriegen zerrütteten Land sind bedrückend. Neben einer schlechten wirtschaftlichen Situation wirkt sich vor allem die Politik des von Moskau installierten Machthabers aus. Ramsan Kadyrow geht brutal gegen Oppositionelle vor. Wer den Herrscher kritisiert, wird geschlagen, entführt, öffentlich erniedrigt; die Häuser werden angezündet.
"Das Regime wird mit jedem Monat immer härter, im vergangenen Jahr hat sich die Lage deutlich verschlechtert", sagt Jekaterina Sokirjanskaja, Projektdirektorin für Europa und Zentralasien der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group. "Die Menschen werden für jede Kritik oder sogar ironische Bemerkung über die Machthaber verfolgt."
In der letzten Zeit habe sie außerdem viele Fälle registriert, in denen Menschen festgenommen und brutal verprügelt wurden, nachdem sie mit Journalisten und Menschenrechtlern gesprochen hätten. "Aktivisten, Menschenrechtler, Universitätsdozenten und Kreative fliehen aus Tschetschenien", sagt Sokirjanskaja.
Radikale Muslime, aber selbst gemäßigte Salafisten werden im Nordkaukasus regelrecht gejagt. Hinzu kommt, dass immer mehr junge Tschetschenen mit dem Salafismus sympathisieren. "Sie haben das Gefühl, dass sie in Europa als gläubige Muslime ein leichteres Leben führen können als in Tschetschenien", erklärt Irina Kosterina, Koordinatorin der Heinrich-Böll-Stiftung in Russland.
Zuletzt hätten außerdem viele ältere Tschetschenen ihr Land verlassen. Sie seien auf der Suche nach einer besseren medizinischen Versorgung. Wenn ein Bekannter zum Beispiel einen guten Arzt in Deutschland oder Belgien gefunden habe, werde dies schnell weitererzählt. Nicht zuletzt die Entwicklungen im Sommer 2015 könnten dazu geführt haben, dass mehr Menschen aus Tschetschenien kommen. "Sie sehen, dass Europa Muslime aus Syrien aufnimmt, deshalb denken sie, man wird auch Tschetschenen nehmen", sagt Kosterina. "Das führte zu einer naiven Annahme, dass der Moment für die Flucht derzeit günstig ist."
Falsche Gerüchte machen die Runde
Die Zahl der Asylanträge aus der Russischen Föderation bereits war vor ein paar Jahren sprunghaft gestiegen. Kamen 2011 nur 1689 Antragssteller aus der Region, waren es im folgenden Jahr bereits 3202. Im Jahr 2013 war Russland nach Serbien schließlich das Land mit den meisten Asylbewerbern: Insgesamt kamen 15.473 Schutzsuchende.
Auch damals hatten sich vor allem Tschetschenen auf den Weg gemacht. Schlepper hatten das Gerücht gestreut, dass sie in Deutschland eine hohe Summe Bargeld sowie ein Stück Land erhalten würden. Tausende machten sich infolge der Falschmeldung auf den Weg. Sie reisten mehrheitlich über die Ukraine, Weißrussland und Polen bis in die Bundesrepublik.
Deutsche Sicherheitsbehörden beobachten den erneuten Anstieg mit Sorge. Zum einen äußern Beamte die Vermutung, dass Russland die "Tschetschenen-Tür" erneut geöffnet habe, um seine Macht zu demonstrieren. In Moskau wurde die Unruhe, die im vergangenen Jahr durch die Flüchtlingskrise hierzulande entstand, genau registriert. Deutsche Sicherheitsbehörden beobachten bereits seit einiger Zeit, dass Russland verschiedene Möglichkeiten nutzt, um hierzulande Unruhe auszulösen.
Zum anderen seien in der Vergangenheit Personen aus dem Kaukasus regelmäßig als "gewalttätig" und "aggressiv" in Flüchtlingsunterkünften aufgefallen. Außerdem gebe es bei einigen Tschetschenen den Verdacht, dass es sich um radikale Salafisten handelt.
Erst am vergangenen Samstag war es in Bielefeld zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Flüchtlingen aus Tschetschenien und dem Nordirak gekommen. In einer Unterkunft eskalierte die Situation zu einer Massenschläger, bei der mehrere Personen – darunter mehrheitlich kurdische Jesiden – teils schwer verletzt wurden. Die Polizei nahm kurzzeitig zwei Tschetschenen in Gewahrsam. Die Ermittlungen zu dem Vorfall dauern noch an.
Quelle: welt.de
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