"Sie zeigen ihre Waffen und ihre Macht. Das hat schon etwas Beeindruckendes und Einschüchterndes, für all die, die nichts haben", sagt Bernhard Weber, der als "MC Gringo" seit über zehn Jahren in einer Favela in Rio de Janeiro lebt und selbst über die Funk-Bühnen der Stadt tingelte.
Immer wieder dringen aus eben diesen Armenvierteln der brasilianischen Metropolen, die so bekannt für ihre Funk-Partys sind, Berichte über brutale Übergriffe auf Frauen an die Öffentlichkeit. Erst vor ein paar Tagen soll in einer Favela in Rio de Janeiro ein 16-jähriges Mädchen von mehr als 30 Männern vergewaltigt worden sein. Anschließend prahlten die Peiniger mit einem Video von ihrer Tat im Internet.
Sogar ein Freund, in dessen Haus das Mädchen Schutz suchte, soll zum Mittäter geworden sein. Und in sozialen Netzwerken geben ihr Männer jetzt sogar Mitschuld an der Tat: Eine Frau habe in diesen Vierteln nichts zu suchen, und sie müsse sich vernünftig anziehen. Nun tobt in Brasilien eine breite Debatte über Gewalt gegen Frauen und Mädchen.
Die Stimmung kann jederzeit eskalieren
Interimspräsident Michel Temer will jetzt eine Art Spezialeinheit zum Schutz von Frauen bilden. Zumindest hat er das versprochen: "Es ist absurd, dass wir im 21. Jahrhundert mit solchen barbarischen Straftaten leben müssen", sagte Temer.
Seine suspendierte Vorgängerin Dilma Rousseff fordert eine harte Bestrafung der Täter. Doch auch in ihrer Regierungszeit wurde kaum etwas gegen die Frauenverachtung und Gewalt unternommen, die in vielen Favelas zur brutalen Realität wurde.
Und ob es ausgerechnet Nachfolger Temer, dessen Kabinett ausschließlich aus weißen Männern besteht, gelingt, eine Strategie gegen diese schockierende Entwicklung zu finden, bleibt abzuwarten. Es gilt erst einmal zu identifizieren, was dazu geführt hat, dass Gewalt gegen Frauen hier offenbar in einigen Kreisen als normal angesehen wird.
Für "MC Gringo" ist die Entwicklung keine Überraschung: "Die Funk-Kultur in der Favela ist untrennbar mit Gewalt und Texten sexueller Herablassung verbunden. Und die Tat ist ja nach einem Funk-Event in dem Viertel passiert. Eigentlich ist das eine ebenso tragische wie logische Entwicklung."
Weber trat selbst jahrelang auf den Bühnen in Rios Favelas auf. Er kennt die Stimmung inmitten durch Drogen aufgeputschten Fans und Drogengangs, die jederzeit eskalieren kann: "Die Texte strotzen inzwischen nur so von Gewalt, von Drogen und von zur Gewalt gegen Frauen aufrufenden Kommentaren. Diese Gewalt gegenüber Frauen wird verherrlicht, ja geradezu provoziert", sagt Weber.
Von Musik und Drogen angeheizte Männer
K.-o.-Tropfen, Crack und Koks sind an jeder Ecke zu erstaunlich niedrigen Preisen zu haben. Von Musik, Texten und Drogen angeheizte Männer im Testosteronrausch laufen dann frühmorgens als unberechenbare Zeitbomben durch die Armenviertel. Die Polizei ist weit weg.
Dazu kommt, dass sich viele mit den Drogengangs identifizieren. "Für Menschen, die nicht in einer Favela leben, ist das nur schwer nachvollziehbar, aber schon die Kids schauen zu den lokalen Drogenbossen auf. Und sie streben diesen Lebensstil an: viele Frauen, viel Macht und viel Gewalt. Wenn du keine Alternative hast, dann entscheidest du dich eben für diese Karriere."
Mädchen und Frauen zählen in dieser Welt nicht viel, sie sind nur schmückendes Beiwerk. Die Entscheidungen treffen die Männer. Sie bestimmen, wer welchen Posten in den kriminellen Netzwerken bekommt, wer auf welcher Bühne auftreten darf, und manchmal auch, wer welches Mädchen haben darf.
Besonders schwer haben es in diesen Strukturen junge, attraktive Frauen. Nicht selten kommt es vor, dass lokale Drogenbosse den Eltern befehlen, dass die Mädchen abends beim Boss zu erscheinen haben. Tun sie das nicht, droht ihnen und der ganzen Familie der Tod. Sie haben nur die Wahl zwischen Flucht oder Unterwerfung. Der Weg in die Prostitution ist dann nicht mehr weit.
Die Polizei hat sich zurückgezogen
Eine Zeitlang schien es so, als gäbe es eine Chance, diese Regeln zu durchbrechen – durch den Einsatz der sogenannten Befriedungspolizei (UPP). "Man kann zu diesen Einheiten sicher eine kritische Meinung haben, aber es gab auch Fortschritte", sagt Weber.
Aus seinem Viertel hat sich vor ein paar Wochen die Polizei zurückgezogen, seitdem wird wieder scharf geschossen zwischen den Häusern. Es geht um die Vormachtstellung im Drogenhandel und damit um Macht und Einfluss. Letztendlich natürlich auch um Frauen.
"Wir haben in Rio eine große Chance verpasst, als die UPP einen Teil der Stadt befriedet hat. Damals hätte man dafür sorgen müssen, dass die Menschen offen ihre Meinung sagen, damit eine Diskussion in Gang kommt." Doch das ist schon wieder vorbei.
Der Alltag sieht anders aus. Weber, der inzwischen als Guide Touristen aus aller Welt unter anderem durch Rios größte Favela Rocinha führt, hat sich vom Funk losgesagt: "Ich hatte ohnehin das Glück, eine Art Ausländerbonus zu haben. Ich musste einen Teil des Geschäfts nicht mitmachen."
Und der bestand in einer Art bedingungsloser Kooperation mit den lokalen Gangs. Und die lieben es, wenn die Funker sie, ihre Gewalt, ihre Macht und auch ihren Umgang mit Frauen glorifizieren.
Dass die mutmaßliche Massenvergewaltigung und somit die Gewalt gegen Frauen seit Tagen die brasilianische Öffentlichkeit beschäftigt, ist für Weber aber kein Anlass zu Hoffnung auf Besserung. "In Brasilien kommt es häufig vor, dass sich die Menschen schnell über ein Thema aufregen, doch ebenso schnell verschwinden die Probleme auch wieder von der Bildfläche. Wirkliche Veränderungen gibt es nicht", sagt Weber. "Und ich befürchte, dass wird auch diesmal so sein."
Quelle : welt.de
Tags: