Trotzdem wurde er im Februar dieses Jahres von der Polizei wachgeklingelt und hatte die Wahl: den Beamten 600 Euro geben oder mitkommen. Becker hatte das Geld nicht. So wie viele andere Menschen, die in Deutschland zu einer Geldstrafe verurteilt werden. Und so musste Becker, wie jedes Jahr Zehntausende, stattdessen ins Gefängnis.
Eine Ersatzfreiheitsstrafe muss absitzen, wer die Tagessätze seiner Geldstrafe nicht bezahlen kann. Daran ist vieles problematisch, zuvorderst: Das Risiko, inhaftiert zu werden, ist dadurch für Arme größer als für Reiche. Die einen überweisen die Strafe, die anderen leben schon am Existenzminimum und müssen deshalb je nach Strafe für fünf, 20 oder mehr Tage ins Gefängnis, für jeden Tagessatz einen. Becker war zu 40 Tagessätzen verurteilt. Auch für den Staat ist das keine gute Lösung, denn diese Strafe kostet Geld, statt welches einzubringen: Ein Hafttag beläuft sich teilweise auf mehr als hundert Euro.
Deshalb diskutieren die Bundesländer am heutigen Donnerstag auf der Justizministerkonferenz über eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe. Brandenburg will sie nach schwedischem Vorbild abschaffen, Nordrhein-Westfalen schlägt vor, die Pfändungsgrenze bei Geldstrafen zu ignorieren: Es soll auch von Hartz-IV-Empfängern Geld eingetrieben werden können. Das würde zwar die Haftstrafe verhindern, aber die Situation der Betroffenen noch verschlimmern. Ob die Vorschläge der beiden Länder mehrheitsfähig sind, ist fraglich. Doch eine Reform des Gesetzes wäre dringend nötig.
Häufig sei es nicht nur der Geldmangel, sondern auch ein Mangel an sozialer Kompetenz, der aus der Geld- eine Haftstrafe macht, sagt der Kriminologe Heinz Cornel. Damit meint er Obdachlose und Drogenabhängige, aber auch Menschen wie Pascal Becker. Becker wollte alles richtig machen, doch es ging richtig schief. Er wollte raus aus seiner Familie in Berlin-Wedding, weg vom dauernd laufenden Fernseher, Abitur machen. "Du hältst dich wohl für was Besseres", sagte seine Mutter.
Niemand weiß, wie viele Ersatzfreiheitsstrafen es jährlich gibt
Mit 15 lebte er ein Jahr im Heim, weil seine Mutter einen Suizidversuch unternommen hatte. Mit 17 zog er aus, in eine Wohnung der Jugendhilfe. "Sozialpädagogen haben mich mein ganzes Leben begleitet", sagt Becker. Er hat braune Locken, Dreitagebart, spricht betont höflich. Doch auch die Sozialarbeiter konnten nicht verhindern, dass Becker immer wieder "wegbricht". So nennt er es, wenn er sich zurückzieht, weil die Erwartungen und der Stress zu groß werden, wenn er nach fast 13 Jahren Schule nicht mehr hingeht und deshalb das Abitur nicht schafft. Und wenn er die Post von der Staatsanwaltschaft nicht öffnet.
Wie viele Menschen pro Jahr bundesweit eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, wird seit einer Umstellung der Strafvollzugsstatistik 2003 nicht mehr erhoben. "Damit ist ein kriminalpolitisch wichtiges Problem ins Dunkelfeld verschoben worden", schrieb das Bundesinnenministerium 2006. Die letzte Zahl stammt aus dem Jahr 2002, damals waren es 65.000 Fälle im Jahresverlauf.
Erhoben wird nur die Zahl der bundesweit Inhaftierten an einem Stichtag, da machen Ersatzfreiheitsstrafler aktuell 8,4 Prozent der 63.000 Häftlinge aus. Diese Zahl ist so niedrig ist, weil sie nur erfasst, wer zu einem bestimmten Zeitpunkt im Gefängnis sitzt, nicht alle in einem Jahr Aufgenommenen und Entlassenen. Weil aber die Ersatzfreiheitsstrafen so kurz und die Fluktuation deshalb hoch ist, schätzt der Kriminologe Cornel, dass 30 bis 40 Prozent aller Aufnahmen und Entlassungen in einem Jahr in deutschen Gefängnissen Ersatzfreiheitsstrafler betreffen.
"Ich hätte wissen müssen, dass das nicht hinhaut"
Einen weiteren Eindruck gibt die Zahl der Haftbefehle, die während eines Jahres aufgrund von Ersatzfreiheitsstrafen ergehen. Bundesweit ist dieser Vergleich nicht möglich, weil nicht alle Bundesländer die Zahl der ausgestellten Haftbefehle erfassen. Doch in Schleswig-Holstein waren es im vergangenen Jahr 3.123, die große Mehrheit von insgesamt 3.901 Haftbefehlen. In Mecklenburg-Vorpommern waren es 713 von insgesamt 1.317. Aber längst nicht alle erlassenen Haftbefehle führen auch zur Inhaftierung, die Verurteilten können auch dann noch ihre Strafe bezahlen – oder sie werden trotz Haftbefehl nie abgeholt (Lesen Sie hier die Recherche zu offenen Haftbefehlen in Deutschland).
Pascal Becker wollte, wenn schon kein Abi, eine Ausbildung zum Fachinformatiker machen, an einer Berliner Privatschule. "Ich könnte nie einen rein praktischen Beruf machen", sagt er. "Da würde ich im Kopf sterben." Er wurde angenommen, beantragte Schüler-BaföG. 450 Euro im Monat, von denen er Miete, Essen und 150 Euro Schulgebühr zahlen musste. "Ich hätte wissen müssen, dass das nicht hinhaut", sagt er heute. Damals vor drei Jahren brach er wieder einmal weg.
Drei Monate gingen die BaföG-Zahlungen noch auf seinem Konto ein, obwohl er die Schule schon geschmissen hatte. Erschleichen von Leistungen, 40 Tagessätze á 15 Euro, lautete der Strafbefehl, den er schließlich im Oktober 2015 im Briefkasten hatte. Danach machte er sehr lange keine Briefe mehr auf.
Genau das ist das Muster, dass Heinz Cornel immer wieder begegnet ist. Cornel ist Professor für Jugendrecht, Strafrecht und Kriminologie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und war Präsident der Deutschen Bewährungshilfe. Es gibt in allen Bundesländern die Möglichkeit, eine Geldstrafe zu stunden, in Raten zu zahlen oder in gemeinnütziger Arbeit abzuleisten. Doch die Hälfte der Verurteilten melde sich auf diesen Brief erst gar nicht, schätzt Cornel. "Man könnte auch gucken: Warum meldet der sich nicht? Erreicht ihn die Post überhaupt?"
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