Merkel hat Erdoğan etwas mitgebracht

  19 Oktober 2015    Gelesen: 559
Merkel hat Erdoğan etwas mitgebracht
Kanzlerin Merkel stellt der Türkei einen schnelleren EU-Beitrittsprozess in Aussicht und lockt mit zügigen Erleichterungen in Visa-Fragen. Dennoch bleiben Hemmungen, die Türkei jetzt und nur wegen der Flüchtlingskrise aufzuwerten.
Zwei der besonders heiklen Themen ließen Kanzlerin Angela Merkel und der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu bei ihrem Treffen in Istanbul aus: die Einstufung der Türkei als sicherer Herkunftsstaat und den Aufbau sogenannter Schutzzonen in Syrien. Die beiden Regierungschefs bewegten sich aber bei einer Reihe anderer umstrittener Themen aufeinander zu.

Merkel will die Türkei für eine verstärkte Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise gewinnen. Merkel sprach sich deshalb dafür aus:

Türken schneller Visaerleichterung in der EU zu verschaffen. Türkische Bürger brauchen für die Einreise in den Schengen-Raum derzeit noch entsprechende Papiere. Die EU und die Türkei initiierten Ende 2013 einen "Dialog zur Visa-Liberalisierung", der aber noch nicht abgeschlossen ist.
Den EU-Beitrittsprozess der Türkei zu beschnleunigen. Zunächst sollen Kapitel 17, später Kapitel 23 und 24 eröffnet werden. Dabei geht es um die Wirtschafts- und Währungspolitik, sowie um Fragen der Justiz und Sicherheit.
Die Türkei finanziell besser auszustatten, um Flüchtlinge im Land zu versorgen.

Davutoğlu fordert drei Milliarden Euro

Wie genau das passieren soll, blieb aber offen. Auch, wie viel Geld die EU Ankara zusätzlich bereitstellt, blieb unklar. Davutoğlu nannte die Zahl drei Milliarden. Merkel sagte: "Die Türkei möchte zusätzliches Geld, und das verstehe ich auch." Deutschland werde seinen Beitrag dazu leisten.

Die Türkei fordert außerdem einen Status als sicherer Herkunftsstaat für sich und eine Schutzzone im Norden Syriens, durch die der Islamische Staat von der türkischen Grenze ferngehalten werden soll. Merkel lässt auf Nachfrage Gesprächsbereitschaft erkennen. Viel mehr aber noch nicht.

Mit mehr Ergebnissen war bei Merkels Besuch im Dolmabahçe-Palast in Istanbul kaum zu rechnen. Die Verhandlungen sind für die Kanzlerin problematisch. Merkel und die EU sind auf die Türkei angewiesen, um die Flüchtlingskrise zu meistern.

Die Türkei leistet bei der Aufnahme von Schutzsuchenden Enormes. Mehr als zwei Millionen Menschen, vor allem Kriegsflüchtlingen aus Syrien und dem Irak, hat das Land bereits Unterschlupf geboten und dazu mehr als 6,75 Milliarden Euro ausgegeben.

70 bis 80 Prozent der Flüchtlinge, die derzeit in die EU kommen, reisen über die Türkei ein. Nur ein effektiver Grenzschutz dort kann den Druck auf die EU verringern. Doch aus Merkels Perspektive spricht sehr viel dagegen, der Türkei jetzt Zugeständnisse zu machen. Und zwar nicht nur, dass sie als CDU-Politikerin eigentlich gegen einen EU-Beitritt der Türkei ist.

Reformen in der Türkei stocken

In der Türkei wird am 1. November gewählt. Ihr Besuch kann als Aufwertung der regierenden AK-Partei gelesen werden. Merkel wandte ein: "Ich habe die Auffassung, dass politisch drängende Fragen auch in Wahlzeiten möglich sein müssen."

Davutoğlu stimmte ein. Er erhob den Zeigefinger, während er sagte: Wenn es nur um das Leben eines einzelnen Flüchtlings gehe, seien die Gespräche schon gerechtfertigt. Er erinnerte an den dreijährigen Aylan, der im Mittelmeer ertrank und dessen Bild um die Welt ging. Er verbat sich, das Treffen mit dem Wahlkampf zu vermischen. Er machte allerdings auch kein Geheimnis daraus, dass sein nächster Termin eine Wahlkampfveranstaltung ist.

Hinzu kommt: Der nächste Türkei-Fortschrittsbericht der EU-Kommission wird wohl ausgesprochen kritisch ausfallen. Das berichtet die "Süddeutsche Zeitung" und beruft sich auf ein Papier des EU-Verbindungsbüros des Bundestages. Die EU-Kommission wirft Ankara demnach eine "deutliche Verlangsamung des Reformprozesses vor". Besonders problematisch seien Rechtsstaatlichkeit sowie Presse- und Meinungsfreiheit. Von "unzulässigen Eingriffen" der Politik in das Justizwesen ist die Rede und "wesentlichen Verschlechterungen" unter anderem durch verschärfte Gesetze zur Versammlungsfreiheit.

Seit dem verheerenden Anschlag in der türkischen Gemeinde Suruç kündigte Ankara zudem praktisch auch den Friedensprozess mit den Kurden im Land auf. Die Türkei griff nicht nur den Islamischen Staat (IS) in Syrien und dem Irak an, der mutmaßlich für den Anschlag verantwortlich zeichnet. Die Sicherheitskräfte nutzten die Gelegenheit, um auch Kämpfer und Stellungen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu attackieren. Es kam zu Vergeltungsschlägen. Seither eskaliert der Kurdenkonflikt in der Türkei wieder.

Merkel ging darauf in Istanbul ein, allerdings nur mit ein paar Sätzen. Sie sagte, es wäre wichtig, dass der Versöhnungsprozess zwischen Regierung und Kurden wieder in Gang komme. Auch sonst war Merkels Besuch in der Türkei feinfühlig austariert. Zumindest sofern das angesichts all der schwierigen Themen möglich war.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der weiterhin als wahrer Machthaber des Landes und als Hauptverantwortlicher für die problematische Entwicklung des Landes gilt, traf Merkel erst nach Davutoğlu. Statt einer Pressekonferenz gab es Statements im Yildiz-Palast - vor einer handverlesenen Zahl von Journalisten und ohne die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Merkel wiederholte Floskeln wie die einer gerechten "Lastenverteilung". Inhaltlich ging sie nicht über das hinaus, was sie beim Auftritt mit Davutoğlu sagte. Das Motto: Zugeständnisse ja, aber nicht zu offensichtlich. Und auch nur weil es nicht anders geht.

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