Was als taktisches Mittel vor allem den EU-skeptischen Flügel der Tories ruhigstellen sollte, hat genau das Gegenteil bewirkt: Die Konservativen sind inzwischen extrem gespalten. Und nicht nur sie: Durch das ganze Land geht ein Riss. Brexit-Anhänger und Gegner haben sich in den vergangenen Monaten in erbitterten Kampagnen verbal bekriegt. Cameron warnt bei einem Ausscheiden aus der EU vor einem Krieg, Londons ehemaliger Bürgermeister Boris Johnson, das prominenteste Gesicht der "Leave"-Kampagne, vergleicht die EU mit Hitler. In der britischen Presse wird die Referendumsdebatte gar zu einer Schlacht um England. In dieser aufgeheizten Atmosphäre verfiel das Land am vergangenen Donnerstag jäh in einen Schock, als ein geistig verwirrter Mann die Labour-Abgeordnete und Brexit-Gegnerin Jo Cox auf offener Straße erschoss. Offenbar rief er dabei "Britain first", den Slogan der Austrittsbefürworter. Die rechtspopulistische Ukip-Partei, die seit Jahren für einen EU-Austritt wirbt, zog daraufhin ein fremdenfeindliches Plakat zurück, der Wahlkampf wurde für ein paar Tage ausgesetzt.
Gerade die "Leave"-Kampagne setzte in den vergangenen Monaten vor allem auf das Thema Immigration und schürte die Angst vor einem EU-Beitritt der Türkei und Millionen zusätzlichen Einwanderern. Die Einwanderer drückten die Löhne und beuteten das Sozialsystem aus, so ihr Tenor. Dass Cameron nicht wie versprochen die Nettozuwanderung auf unter 100.000 pro Jahr drücken konnte, ist für sie ein gefundenes Fressen. Tatsächlich lag die Einwanderung im vergangenen Jahr bei 333.000 – wobei der größere Teil aus Nicht-EU-Migranten bestand. Selbst bei einem totalen Stopp für EU-Zuwanderer, die allerdings für viele Jobs unerlässlich sind, würde es auch nach einem Brexit voraussichtlich mehr als 100.000 Einwanderer geben.
350 Millionen Pfund gespart?
Neben der Zuwanderung kritisieren die sogenannten Brexiteer vor allem das Demokratiedefizit der EU. Ungewählte Bürokraten würden Großbritannien die Gesetze vorschreiben, so ihre Klage. Ihrer Ansicht nach macht erst ein EU-Austritt das Land wieder frei und verhilft ihm zu alter Größe. Außerdem, so ihr plakatives Argument, das auf den "Schlachtbussen" ihrer Wahlkämpfer prangt, spare das Land so jede Woche 350 Millionen Pfund. Anstatt diese nach Brüssel zu schicken, könnte damit wöchentlich ein neues Krankenhaus gebaut werden. Diese Zahl ist zwar nachweislich falsch, kommt aber bei vielen Briten gut an.
Gegen die eingängigen und emotional aufgeladenen Argumente der Brexit-Befürworter hat das "Remain"-Lager einen schweren Stand. Es argumentiert vor allem mit den hohen wirtschaftlichen Kosten, die bei einem Brexit auf die Briten zukommen würden. Laut dem britischen Finanzministerium kostet ein EU-Austritt jeden britischen Haushalt jährlich 4300 Pfund.
Auch die OECD, der IWF und zahlreiche Wirtschaftsinstitute warnen vor den hohen Kosten. Die Investmentlegende George Soros schrieb in dieser Woche in einem Gastbeitrag für den "Guardian": "Ein Brexit-Crash macht euch alle ärmer – seid gewarnt." Viele Banken rechnen mit einem massiven Absturz des Pfunds, Chefvolkswirt Holger Schmieding von der Berenberg Bank prognostiziert eine kleine Eurokrise und erklärt: "Ein Brexit ist das größte Risiko für die europäische Wirtschaft und den politischen Zusammenhalt Europas in diesem Jahr."
Die Brexit-Anhänger schauen auf diese Warnungen so wie auf die angeblichen Bürokraten in Brüssel: mit Verachtung. Die sogenannten Experten hätten immer falsch gelegen, heißt es dann oft. Der ehemalige Außenminister Lord David Owen sagt: "Diese Studien sind falsch". Schließlich komme es darauf an, womit man Modelle füttere: "Wenn man Mist reinsteckt, kommt auch Mist heraus."
Er und seine Mitstreiter – ein höchst heterogenes Lager von linken Globalisierungsgegnern, sozial Abgehängten bis hin zu konservativen Tories, die dem alten Empire nachtrauern - erwarten, dass sie ohne die Regulierungen aus Brüssel langfristig wirtschaftlich besser dastehen. Ihr Argument: Die EU ist mehr auf Großbritannien angewiesen als umgekehrt und muss daher London bei Verhandlungen entgegenkommen.
Schäuble: "In is in, out is out"
In diesem Punkt könnten sie sich jedoch verrechnet haben. Schon allein, um einen möglichen Dominoeffekt zu verhindern, ist die EU dazu bislang nicht bereit: "In is in, out is out", sagte Wolfgang Schäuble. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärte: "Die `Deserteure` werden nicht mit offenen Armen empfangen werden."
Noch ist völlig unklar, wie die Scheidungsverhandlungen aussehen könnten. Die meisten britischen EU-Gegner wollen nach einem Brexit im Binnenmarkt bleiben, ähnlich wie Norwegen oder die Schweiz. Das Problem dabei: Auch in diesem Fall müssen sie Geld an die EU überweisen und EU-Regeln wie die verhasste Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren – ohne die Regeln mitbestimmen zu können. Warum gerade die Brexit-Befürworter, wie sie es suggerieren, bei der EU bessere Konditionen aushandeln sollten als die britische Regierung unter Cameron, bleibt ein Rätsel.
Nicht nur die künftigen Beziehungen zur EU sind nach einem Brexit völlig ungewiss. Wie geht es mit Schottland weiter? Kommt es dort auch zu einem Referendum, wie es schottische Politiker bereits androhen? Was wird aus der Grenze zwischen Nordirland zu Irland, was aus Gibraltar? Wird ausgerechnet der Referendumsverlierer Cameron im Amt bleiben, um die Details mit der EU auszuhandeln? Viele Fragen sind offen – und spätestens nach einem Brexit würde es hier zu einem heftigen Streit auch innerhalb des Brexit-Lagers kommen.
Noch ist es nicht so weit und vielleicht wird es auch nie so weit kommen. Glaubt man den Wettbüros, scheint der Sieg der Brexit-Gegner ausgemacht: Ausgehend von ihren Quoten rechneten sie einen Tag vor dem Referendum mit einem klaren Sieg des "Remain"-Lagers. Laut den Umfrageinstituten ist allerdings ein Kopf-an-Kopf-Rennen zu erwarten. Anfang vergangener Woche lagen noch die Brexit-Anhänger vorne, inzwischen haben die Brexit-Gegner einen minimalen Vorsprung. Dass die Stimmung doch womöglich Richtung "Remain" kippt, könnte am Mord an Cox liegen und an der Angst vor dem Ungewissen. "Die meisten Menschen entscheiden sich am Ende lieber für den Status Quo als für Veränderungen", sagt der Chef des Umfrageinstituts YouGov, Stephan Shakespeare.
Noch bis 22 Uhr Ortszeit haben die rund 45 Millionen registrierten Wahlberechtigten heute die Wahl. Danach müssen sich die besorgten Beobachter in Großbritannien und der EU erst einmal gedulden. Nach bisherigem Stand soll es weder Prognosen noch Hochrechnungen geben – angeblich, weil entsprechende Vergleichsdaten fehlen. Das Endergebnis wird am Freitag um die Frühstückszeit erwartet. Wie auch immer es ausgeht: Es dürfte manchen den Appetit verderben.
Quelle: n-tv.de
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