Italien? Viele Experten zählten den viermaligen Welt- und einmaligen Europameister vor der EM in Frankreich nicht zum Favoritenkreis. Die Gründe: Leistungsträger haben aufgehört (Andrea Pirlo), fallen verletzungsbedingt aus (Claudio Marchisio, Marco Verratti) oder wurden gar nicht erst nominiert (Mario Balotelli). Als weiterer Beweis für die mangelnde Konkurrenzfähigkeit galt vielen die angeblich nur durchschnittliche Offensive der Azzurri. Zaza, Immobile, Eder, Candreva – sie sind passable Serie-A-Stürmer, okay, aber nicht vergleichbar mit früheren Granden wie del Piero, Inzaghi oder Vieri.
Italien also ein Team unter "ferner liefen"? Von wegen. Mit den Südeuropäern ist immer zu rechnen, schrieb Kollege Giannakoulis bereits vor zwei Wochen in der Gruppenvorschau. Schon nach dem ersten Spiel, dem lässigen 2:0 gegen Geheimfavorit Belgien, wurden anderslautende Prognosen korrigiert. Hinten sicher und vorne abgezockt sind sie. Das letzte Vorrundenspiel gegen Irland (0:1), in dem Trainer Conte eine Ersatzelf aufs Feld schickte, ist sicherlich kein Gradmesser. Auch mit den Erfahrungen der Vergangenheit im Hinterkopf dürfte sich Bundestrainer Joachim Löw im Turnier wohl nach wenigen Gegnern weniger sehnen. Auch wenn der deutsche Italien-Fluch im Frühjahr 2016 mit einem 4:1-Testspielsieg zertrümmert wurde: Bei einer WM oder EM hat eine deutsche Mannschaft noch nie gegen Italien gewinnen können. Auch deshalb ist Italien einer der EM-Favoriten.
2. Die Hooligans sind wieder da
Am 21. Juni 1998, während der WM in Frankreich, verletzten deutsche Hooligans den französischen Polizisten Daniel Nivel in Lens lebensgefährlich. 18 Jahre später gab es ein Wiedersehen mit diesem düsteren Kapitel deutscher Fußballgeschichte: Beim ersten Gruppenspiel der Deutschen gegen die Ukrainer saß Nivel als Zuschauer im Stadion. Krawalle beim Fußball gibt es schon länger, bei der EM in Frankreich waren sie bisher leider eher die Regel als die Ausnahme.
Russische und englische Anhänger prügelten sich in Marseille. Beim Gruppenspiel zwischen beiden Teams kam es im Stadion zu Übergriffen. Vor dem ersten Spiel der DFB-Elf greifen deutsche Hooligans ukrainische Anhänger in der Innenstadt von Lille an. Im Umfeld der Partie Russland gegen Slowakei gab es – wieder in Lille – Jagdszenen und Festnahmen. Vor dem Spiel Polen gegen Ukraine machten Hooligans in der Altstadt von Marseille und vor dem Stadion Ärger, die Polizei setzte Tränengas und Wasserwerfer ein. In der Halbzeit gab es Schlägereien im Stadion. Beim letzten Gruppenspiel drohten kroatische Hooligans mit einem Platzsturm in der 30. Spielminute, aber zum Glück blieb es ruhig. So viel Gewalt gab es lange nicht bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft.
3. Britische Fans machen Stimmung
Vier Mannschaften von den britischen Inseln spielen bei einer EM-Endrunde - so viel wie noch nie. Nur die schottische Mannschaft durfte Anfang Juni nicht nach Frankreich reisen. In der Vorrunde überzeugten die Insel-Teams aber nicht nur auf dem Rasen, alle vier zogen in die K.-o.-Runde ein. Ob die Iren mit ihrem Kultsong "Fields of Athenry" oder die Nordiren mit ihrem "Will Grigg`s on fire", Waliser oder Engländer - auf den Rängen sorgten ihre Fanlager für die beste Stimmung aller EM-Teilnehmer. Einige deutsche Fans klatschten im letzten Gruppenspiel gegen Nordirland immerhin sportlich fair zur nordirischen Folklore mit. Den sportlichen Vergleich hat die DFB-Elf für sich entschieden, musikalisch kann sie vom EM-Neuling, aber auch von den Anhängern aus Irland, Wales und England nur lernen. Gut, dass die vier Teams dem Turnier noch ein bisschen erhalten bleiben.
4. Spiele sind spannend bis zum Schluss
Tempo und Qualität der meisten ersten Halbzeiten in der Vorrunde waren, sagen wir es mal positiv, ausbaufähig. Tröstlich: Das einschläfernde Ballgeschiebe endete häufig mit einem furiosen Finale. Das Solo des italienischen Stürmers Éder, der einmal die komplette schwedische Abwehr austanzte, die hoffnungslos unterlegenen Tschechen und ihr Blitz-Ende gegen Kroatien, Gastgeber Frankreich gleich zweimal und Russland gegen England oder England gegen Wales: Immer wieder bemühten Teams bei ihren Vorrundenspielen die letzten Minuten. Was uns nur zu dem Schluss bringt, dass bei dieser EM zwei Floskelsätze mehr denn je gelten. Sie wissen, welche: der mit den 90 Minuten und der mit dem Schiri und seiner Pfeife. Wir wünschen uns für die K.-o.-Runde, dass früher mehr Tore fallen. Aber spannend bis zum Schluss soll es weiterhin bleiben.
5. Der neue EM-Modus nervt
Vier von sechs Gruppendritten kommen weiter? Ein gefühlt ewiger Tanz ums goldene Achtelfinale, damit am Ende von fast zwei Wochen nur acht Mannschaften, ein Drittel aller Teilnehmer, ausscheiden? Das ist Murks, 24 Teams sind und bleiben überflüssig bei einer Endrunde. Vier Gruppen mit je vier Ländern reichen völlig aus. Dann gibt es auch nicht das Rätsel, warum vier Gruppensieger gegen Dritte antreten, zwei aber gegen Gruppenzweite ranmüssen. Auch die häufig so defensiv orientierten Partien sind auf den Modus zurückzuführen: Wenn sich kleinere Fußballnationen hinten reinstellen und mit einem gelungenen Konter (und Sieg) in der Vorrunde ins Achtelfinale kommen können, wird niemand ein Risiko eingehen. Und: Das Argument, die kleinen Mannschaften seien so stark und schlügen sich gegen die Großen so toll, ist keines. Keiner der Gruppenköpfe ist ausgeschieden. Bei dieser EM bewahrheitet sich ein Satz, den der Trainer Jürgen Klopp hasst: Ein gutes Pferd springt nur so hoch wie es muss. Die vielen späten Entscheidungen stützten diese These übrigens ebenfalls.
6. Terrorangst versaut EM-Euphorie
Seit der WM 2006 in Deutschland war jedes große Fußballturnier vor allem ein permanentes Sommerfest. Doch diesmal ist Public Viewing bei Weitem nicht so beliebt wie bei vorherigen Wettbewerben. Vor der EM sagten bei einer repräsentativen Umfrage fast ein Drittel der Deutschen, sie würden aus Furcht vor Anschlägen öffentliche Plätze meiden und deshalb Spiele nicht auf Großleinwänden verfolgen. In der Realität sieht es noch schlimmer aus: Fotos zeigen fast menschenleere Plätze, allgemein ist kaum Euphorie spürbar. Die n-tv.de Korrespondenten in Frankreich berichten ebenfalls, es gebe nur beherrschte Freude über ein Turnier, das ein riesiges Völkerfest zur angenehmsten Jahreszeit sein sollte. Das Hooligan-Problem macht die Angelegenheit nicht entspannter. Aber vielleicht wird sie es im Jahr 2020, wenn die Spielorte über ganz Europa verteilt sein werden. Zu Hause werden die größten Raufbolde zahm – denn da wohnen sie ja auch.
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