“Ich bin doch noch ein kleiner Junge“

  27 Juni 2016    Gelesen: 951
“Ich bin doch noch ein kleiner Junge“
Alexander Zverev spielt furioses Tennis. Hoffnungsträger zu sein ist schmeichelhaft – und gefährlich.
Wie lange ist ein Sportler ein Talent? So lange, bis er sein Idol geschlagen hat. Könnte man im Fall von Alexander Zverev sagen. Zverev ist ein Hamburger Tennisspieler, von dem viele schon seit einigen Jahren behaupten, er werde der beste deutsche Profi seit Boris Becker. Alexander Zverev galt lange als Ausnahmetalent. Am vergangenen Wochenende wurde aus dem Ausnahmetalent ein Topspieler: Zverev besiegte Roger Federer – jenen Roger Federer, dessen Siege in Wimbledon Zverev als Kind und als Jugendlicher vor dem Fernseher bestaunte.

7 : 6, 5 : 7 und 6 : 3. Nach zwei Stunden und sechs Minuten verwandelte Zverev beim Halbfinale des Turniers in Halle den Matchball. Er jubelte nicht, er ließ sich nicht auf den Rasen sinken. Er lief zum Netz, umarmte Federer und sagte hinterher: "Gegen ihn zu gewinnen ist etwas, was ich mir nie vorstellen konnte."

Alexander Zverev ist angekommen im Weltklasse-Tennis. Er gehört nach diesem Wochenende zu den besten dreißig Spielern der ATP-Tour. Unter den besten 50 der Welt ist er mit 19 Jahren der Jüngste. Er gehört jetzt dazu. Und das ist kein Zufall.

Zverev kommt aus einer Familie, in der es außer Tennis eigentlich nichts geben kann, so viel Zeit wie sie mit dem Sport verbrachten. Die Großmutter: Tennisspielerin. Die Mutter: Tennisspielerin. Der Vater: Profi-Tennisspieler, der für die UdSSR im Mannschaftswettbewerb Davis Cup antrat. Der Bruder: Profi-Tennisspieler, der schon zu den besten 50 Spielern der Welt gehörte, sich dann aber häufig verletzte. Vater und Mutter trainierten den Bruder. Man könnte sagen: Er war der Vorläufer für das größte Talent in der Familie, für den Jüngsten von allen. Denn auch Alexander Zverev wird von seinen Eltern trainiert.

Alexander Zverev war immer früher dran als alle anderen. Er stand auf dem Tennisplatz, da war der Schläger noch größer als der Körper. Der Körper aber wuchs schnell: 1,98 Meter ist er heute groß, beste Voraussetzungen für einen Sport, bei dem ein wuchtiger Aufschlag allein schon Spiele entscheiden kann. Der Junge mit dem schlaksigen Körper und den langen Haaren gewann rasch Turniere, erst in Deutschland, dann in der ganzen Welt. 2013 erreichte er beim Juniorenturnier der French Open das Finale. Ein Jahr später gewann er die Australian Open der Junioren.

2014 wechselte er zu den Senioren und kämpfte sich in der Weltrangliste unter die besten 200. 2015 kam er unter die Top 100. Jetzt steht er auf Platz 28.

Aber Vorsicht! Selbst bei einem wie Zverev, dem bislang vieles gelang in seiner Karriere, muss es nicht so weitergehen, wie es begonnen hat. Das warnende Beispiel ist ausgerechnet ein anderer Hamburger Tennisspieler, dessen Laufbahn schon geplant wurde, als sein Kopf kaum das Netz überragte: Tommy Haas. Auch Haas war einer der Auserwählten, über die es früh hieß, er werde der neue Boris Becker. Auch Haas gewann viel in jungen Jahren. Dann aber verletzte er sich häufig und wurde nie der, für den ihn viele hielten. Keinen einzigen Titel bei einem Grand-Slam-Turnier holte er in seiner Karriere.

Als Boris Becker zum ersten Mal Wimbledon gewann, war er 17 Jahre alt. Zverev ist mit 19 heute einer der jüngsten Spieler im Profi-Tennis. Das zeigt: Im Gegensatz zum Fußball, wo immer jüngere Spieler die wichtigsten Positionen besetzen, ist Tennis ein Sport, in dem es selbst für die größten Nachwuchshoffnungen Jahre dauert, bis sie die Weltspitze erreichen.

Zverev weiß das. Und sagt: "Ich bin doch noch ein kleiner Junge." Im Grunde hat er damit natürlich recht: Er ist im Vergleich zu Roger Federer und Rafael Nadal noch sehr jung. Seit einiger Zeit macht dieser kleine Junge aber bei den Großen mit – und merkt, dass er noch viel lernen muss.

Im Finale von Halle verlor er am Sonntag gegen den dreizehn Jahre älteren Florian Mayer in drei Sätzen. Dass er bei der Siegerehrung die Schale für den Zweitplatzierten lustlos wie einen Pappbecher vom Fastfood-Laden in die Kameras hielt, zeigt, wie enttäuscht er war – und wie ehrgeizig er ist. Aber auch das ändert nichts an den Fakten: Zum zweiten Mal stand Zverev im Finale eines ATP-Turniers, zum zweiten Mal konnte er nicht gewinnen.

Wenn am Montag das Turnier in Wimbledon beginnt, soll deshalb auch niemand erwarten, dass Zverev dort ins Finale stürmt. Es wäre ein weiterer Schritt, würde er die dritte Runde erreichen und damit eine Runde weiterkommen als im vergangenen Jahr. Sein Vorteil: Weil Zverev nun zu den besten 30 Spielern der Welt gehört, ist er erstmals bei einem Grand-Slam-Turnier gesetzt und wird in den ersten beiden Runden nicht gegen Topgegner antreten müssen.

Und dann? Folgen die US Open und die Australian Open und die French Open und wieder Wimbledon, und wenn Zverev sich weiter so entwickelt, wie er es bislang getan hat, wird er in drei bis vier Jahren bei all diesen Turnieren zu den Favoriten zählen.

"Ich bin überzeugt, dass er in die Top Ten kommt, aber er will mehr erreichen", sagt Roger Federer über Alexander Zverev. Federer sagt aber auch: "Ich will auf den Jungen nicht zu viel Druck ausüben."

Denn Federer weiß auch: Das Schwierigste im Sport ist nicht, Erfolg zu haben. Das Schwierigste im Sport ist, konstant Erfolg zu haben.


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