“Mit Deutschen leben – das ist 1000 Mal besser“

  27 Juni 2016    Gelesen: 618
“Mit Deutschen leben – das ist 1000 Mal besser“
Eine Organisation vermittelt Flüchtlinge als Mitbewohner an Einheimische. Das hilft nicht nur bei der schnelleren Integration der Migranten, sondern kann auch den Blick der Deutschen verändern.
Als der Einberufungsbescheid der syrischen Armee kam, sagte ihm sein Vater, es sei Zeit abzuhauen. Also machte sich Hamad (Name geändert, Anm. der Redaktion), ein 24-jähriger Informatikstudent aus Damaskus, auf den beschwerlichen, eineinhalbmonatigen Weg durch die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Italien und Frankreich, um schließlich im September 2015 Deutschland zu erreichen.

Die überforderten deutschen Sozialeinrichtungen quartierten ihn mit acht weiteren Männern in einem ausgedienten Klassenzimmer in Berlin ein. "Wenn neun Menschen im selben Raum schlafen, kommt es zu Problemen. Der eine möchte schlafen, der andere möchte nicht schlafen; jemand will das Licht anhaben, der andere nicht und so weiter", sagt Hamad.

Die internetbasierte Organisation "Flüchtlinge Willkommen", die oft als Airbnb für Flüchtlinge bezeichnet wird, nahm sich des Problems an. Sie vermittelte Hamad an den ebenfalls 24-jährigen Medizinstudenten Constantin Thieme. Hamad hat jetzt ein eigenes Zimmer in dessen Wohnung: eine Kommode, einen Schrank, ein Bett und ein Fenster mit Blick auf seine neue Nachbarschaft im Ortsteil Berlin-Wedding.

Kaum Kontakt zur deutschen Bevölkerung

Thieme sagt, es sei einfach gewesen, das freie Zimmer über die Website anzubieten. Diese vermittelt Flüchtlinge als Mitbewohner an Familien, Rentner, Studenten und jeden sonst, der ein Zimmer entbehren kann. Der Medizinstudent bot sein Zimmer bereits zur Zwischenmiete an; nun konnte er damit auch noch den Flüchtlingen helfen.

Die beiden Männer trafen sich zum ersten Mal in Thiemes Küche. Das Gespräch war kurz. "Wir sagten nicht wirklich viel. Mir war klar, dass wir uns verstehen würden", sagt er. Hamad lacht zustimmend.

"Flüchtlinge Willkommen" wurde Ende 2014 von den drei jungen Deutschen Mareike Geiling, Jonas Kakoschke und Golde Ebding gegründet. Ihre Motivation war es, die in die Bundesrepublik strömenden Flüchtlinge besser unterzubringen, die häufig in notdürftigen Unterkünften einquartiert wurden, ohne Kontakt zur einheimischen Bevölkerung.

So funktioniert das Konzept

Heute besteht die Organisation aus sechs Vollzeitmitarbeitern und 60 Freiwilligen. Deutschlandweit hat sie 287 Flüchtlingen eine Bleibe vermittelt. Und sie expandiert. Inzwischen gibt es nationale Webseiten in Portugal, den Niederlanden, Kanada, Österreich, Spanien, Polen, Griechenland, Schweden und Italien. Zurzeit sind mehr als 5000 Wohngemeinschaften weltweit registriert.

Mitbegründerin Mareike Geiling erzählt: "Es war eine Herausforderung, mit externen Organisationen wie den staatlichen Behörden zu arbeiten, die nicht so digital versiert und schnelllebig sind, wie es unsere Arbeit erfordert."

Nachdem die Nutzer ein verfügbares Zimmer registriert haben, vernetzt sie die Wohltätigkeitsorganisation mit lokalen Flüchtlingsorganisationen, die über Listen registrierter Asylsuchender verfügen. "Flüchtlinge Willkommen" zeigt auch Wege auf, wie die Miete finanziert werden kann. Thieme beispielsweise hat 500 Euro von Facebook-Freunden erhalten, während Hamad auf die Bearbeitung seiner Papiere wartete. "Es war wirklich erstaunlich, wie positiv die Reaktionen ausfielen, denn viele sagten einfach `Toll, hier sehe ich wirklich, wohin das Geld fließt, und es ist nicht so anonym`."

Wohngemeinschaften bestehen rund ein Jahr

Um sicherzustellen, dass die Vermittelten zueinanderpassen, werden die Inserierenden gefragt, welche Sprachen sie sprechen, wie ihre Mitbewohner sind und wie ihre Stadt und Lebensumgebung aussehen. Die freiwilligen Mitarbeiter der Website vermitteln bei Streitigkeiten und Problemen in den Wohngemeinschaften.

Diese sind auf eine Dauer von mindestens einem halben Jahr angelegt und bestehen in der Regel acht bis zwölf Monate. Wenn es nach dem Einzug eines Flüchtlings nicht rundläuft – was der Organisation zufolge nur in sehr wenigen Fällen vorgekommen ist –, wird ihm eine andere Unterkunft angeboten.

Stimmung in der Bevölkerung hat sich gewandelt

"Flüchtlinge Willkommen" leidet jedoch wie viele andere Organisationen darunter, dass die Asylpolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im In- und Ausland derart umstritten ist. Nicht nur in der Koalition lehnen viele Merkels Politik ab; auch in der Bevölkerung gibt es Unmut. Die Organisation ist jedoch von Spenden abhängig; und die öffentliche Meinung ist bei Weitem nicht so positiv wie noch im Sommer 2015.

Damals hatte Merkel gesagt, das Asylrecht kenne "keine Obergrenze". Tausende Deutsche reagierten auf ihren Aufruf, eine Willkommenskultur zu schaffen, und begrüßten Flüchtlinge an den Bahnhöfen mit Essen, Kleidern und Kinderspielsachen. Heute sieht die Lage anders aus. Die AfD ist auf Erfolgskurs; laut Polizeilicher Kriminalstatistik ist die Zahl der Anschläge auf Asylheime im vergangenen Jahr auf etwa 1000 gestiegen. 2014 waren es noch rund 200.

Ein neues Zuhause in Deutschland

Sein Zuhause zu öffnen sei die beste Möglichkeit, Ängste, die lediglich auf Ignoranz basierten, zu überwinden, sagt Thieme. Seine eigene Perspektive habe sich gewandelt. "Hamad ist absolut nicht der stereotypische arabische Mann, er ist sehr aufgeschlossen, glaube ich. Er entspricht nicht dem Bild, das in den Medien oder von einigen Politikern entworfen wird."

Hamad hat einen Asylantrag gestellt, wird aber voraussichtlich Monate auf eine Arbeitserlaubnis warten müssen. Mittlerweile besucht er einen Deutschkurs, nachdem er wochenlang alleine zu Hause mit einem Lehrbuch gearbeitet hat. Er und Thieme sprechen noch Englisch miteinander. Dennoch findet Hamad, dass es große Vorteile hat, mit einem Deutschen zu leben: "Es ist 1000 Mal besser. Man findet einfach besser Anschluss, weil man mit richtigen Deutschen lebt."

Die beiden jungen Männer gehen trotz Thiemes engen Zeitplans einmal die Woche zusammen in ein Restaurant. Sie haben auch Silvester zusammen gefeiert. Hamad sagt, seine Eltern in Damaskus seien froh, dass er ein neues Zuhause fern der Heimat gefunden hat. Er ist auch den Deutschen dankbar, die ihm das Gefühl geben, willkommen zu sein.

Während er auf die Entscheidung seines Asylantrags wartet, hofft er, dass der Krieg in seiner syrischen Heimat eines Tages zu Ende gehen wird. "Es gibt vieles, was in meinem Land getan werden muss. Wenn der Krieg zu Ende geht und Frieden einkehrt, wird mich mein Land brauchen."

Quelle : welt.de

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