Es ist 10.30 Uhr. Merkel gibt ihre Regierungserklärung im Bundestag und stimmt sich zugleich auf den späteren EU-Gipfel ein. Am Nachmittag treffen die Staats- und Regierungschefs der noch 28 Mitgliedsstaaten in Brüssel zusammen. Der britische Premierminister David Cameron soll aus seiner Heimat berichten und einen Zeitplan für den Ausstieg skizzieren.
Mit ihrer Rede im Bundestag macht Merkel noch einmal klar, welche Grenzen sie den Briten setzt. Eine Demonstration der Härte, der am Abend mit einem symbolischen Akt auf den Höhepunkt getrieben werden dürfte: Cameron muss nach dem gemeinsamen Essen abreisen. Der Rest des Gipfels, der noch bis Mittwoch geht, soll ohne ihn stattfinden, damit sich die verbliebenen 27 Staatschefs in Ruhe über die abtrünnigen Briten und ihre Haltung zu ihnen austauschen können.
Briten wollen der EU nicht ausgeliefert sein
Der britische Premier hatte angekündigt, den EU-Austrittsartikel 50, der das Ausscheiden der Briten in einem rechtlichen Rahmen regelt, nicht selbst zu aktivieren. Er überlässt diesen Schritt seinem Nachfolger, der voraussichtlich erst im September feststehen wird.
Dadurch ist eine brisante Situation entstanden. Denn die Phase der Unsicherheit wird sich in die Länge ziehen. Die Aktienmärkte in Europa brachen nach dem Referendum in Großbritannien mitunter heftig ein. Unternehmer sind seither aufgeschreckt. Und die Politik fürchtet, dass Nationalisten das Momentum nutzen könnten, um den weiteren Zerfall der Gemeinschaft voranzutreiben. Nichts ist derzeit wichtiger für Stabilität als die Gewissheit, wie es jetzt weitergeht. Genau diese Gewissheit verwehrt Cameron Europa mit seiner Entscheidung, Artikel 50 noch nicht zu aktivieren.
Sein möglicher Nachfolger Boris Johnson setzt sich dafür ein, dass die gewonnene Zeit dafür genutzt wird, um in informellen Gesprächen gute Ausstiegsbedingungen für die Briten herauszuverhandeln – bevor der offizielle Ausstiegsprozess beginnt. Zum Beispiel die Möglichkeit, weiterhin Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu behalten. Wichtig sind den Briten diese Vorgespräche vor allem aus einem Grund: Ist Artikel 50 einmal aktiviert, sind sie der EU gewissermaßen ausgeliefert.
Dann bleiben nämlich nur noch zwei Jahre, um sich auf die Modalitäten der Trennung zu einigen. Und kommt es in dieser Zeit zu keinem Kompromiss, scheidet Großbritannien automatisch aus der Gemeinschaft aus – ohne Vergünstigungen.
Schwer zu ertragende Ansagen für das Brexit-Lager
Merkel macht im Bundestag noch einmal deutlich: "Nach diesem Antrag werden die 27 anderen Mitgliedstaaten die Leitlinien für die Verhandlungen festlegen. Und nach der Festlegung dieser Leitlinien können die Verhandlungen beginnen. Nicht vorher, weder formell noch informell."
Die Kanzlerin fügt hinzu: "Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei verlaufen. Wer aus dieser Familie austritt, kann nicht erwarten, dass alle Pflichten entfallen, die Privilegien aber weiter bestehen werden."
Merkel spricht insbesondere den Zugang zum europäischen Binnenmarkt an. Den können die Briten nach dem Austritt nur behalten, wenn sie auch die Grundprinzipien, die die EU damit verknüpft, akzeptieren. Dazu gehören die Personen- und die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Sie versucht dadurch auch klarzustellen, dass es nichts bringt, die Aktivierung von Artikel 50 weiter zu verzögern. Merkel drängt nicht auf sofortige, aber zeitnahe Gewissheiten.
Was etwa den Binnenmarkt und die Arbeitnehmerfreizügigkeit betrifft, gilt: All das wurde den Briten auch schon zuvor wiederholt gesagt. Für Johnson und die anderen Brexit-Befürworter sind Merkels Worte trotzdem eine schwer zu ertragende Ansage. Sie haben während des Wahlkampfes schließlich maßgeblich damit geworben, wieder die Kontrolle über die Migration im Land zu übernehmen.
Cameron ist eine lahme Ente
Fraglich ist, welche Wirkung die Demonstration der Härte rund um den Gipfel tatsächlich hat. Denn Cameron hat zwar das Referendum angestoßen, allerdings nur, um Europakritiker in der eigenen Partei zu besänftigen. Er selbst ist gegen den Brexit und hat sich gewaltig verzockt. Hinzu kommt: Jetzt steht es kaum noch in seiner Macht, Einfluss zu nehmen. Nach seiner Rücktrittsankündigung am Tag nach dem Votum gilt er als "Lame Duck", als lahme Ente.
Beim Abendessen dürfte Cameron die ganze Enttäuschung und Wut über den Austrittswunsch der Briten zu spüren bekommen. Entscheidend dürfte aber vor allem die symbolische Wirkung sein. Seine potentiellen Nachfolger dürften sich genau anschauen, wie die EU mit Cameron umspringt.
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