Algorithmus gegen Aufmerksamkeitsdefizit

  30 Juni 2016    Gelesen: 752
Algorithmus gegen Aufmerksamkeitsdefizit
Weniger Nachrichten, mehr Menschelndes: Facebook ändert seinen Newsfeed, Leidtragende dürften Medienangebote sein. Kein Wunder, dass sie sich beschweren.
Facebook ändert seine Algorithmen öfter als Jogi Löw sein Mittelfeld. Nun ist es wieder einmal soweit: Am Mittwoch gab das Unternehmen bekannt, künftig bevorzugt solche Inhalte prominent im Newsfeed seiner Nutzer zu zeigen, die deren Freunde verstärkt teilen. Man wolle sicherstellen, dass Facebook-Mitglieder die Beiträge von Menschen, die ihnen nahestehen, nicht verpassen.

Das Nachsehen haben Unternehmen und insbesondere Medien, die bisher viel Aufmerksamkeit und Reichweite über den Newsfeed bekommen. Die ersten warnen daher bereits vor einer Verstärkung des Echokammer-Effekts: Wer seine Nachrichten vorwiegend über Gleichgesinnte wie eben die Facebook-Freunde beziehe, bekomme vor allem solche Inhalte und Meinungen vorgesetzt, mit denen er konform ist. Der Spalt in der Tür zur Echokammer, so schreibt es zum Beispiel Wired, seien bisher die Medien, weil sie dafür sorgten, dass es im Newsfeed immer auch Unbequemes, Streitbares und Überraschendes zu sehen gebe.

So weit die noble Theorie.

Tatsächlich verdeutlicht Facebooks Ankündigung nur, in welcher Zweckgemeinschaft das Unternehmen und die Medienbranche leben und wie wenig Platz dort für eine ausbalancierte Vermittlung von Informationen und Nachrichten ist.

Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit

Facebook und Medienhäuser haben prinzipiell das gleiche Ziel. Sie brauchen Nutzer, die möglichst häufig ihre Websites, Apps und Dienste nutzen, und das möglichst lange. Je mehr Gelegenheiten sie haben, den Nutzern Werbung anzuzeigen, desto eher verdienen sie Geld. Privatwirtschaftliche Medien wie ZEIT ONLINE, die keine Paywall einsetzen und keinen milliardenschweren Mäzen im Rücken haben, brauchen diese Einnahmen. So, wie sie deshalb versuchen, möglichst gut über die dominierende Suchmaschine Google auffindbar zu sein, versuchen sie, im mit 1,6 Milliarden Nutzern weltgrößten sozialen Netzwerk ihr Publikum zu finden, indem sie ihre Inhalte entsprechend auswählen und präsentieren.

Facebook wiederum profitiert von journalistischen Inhalten, weil diese Diskussionen auslösen, oft geteilt werden und so für Aktivität im Netzwerk sorgen. Besonders wichtig ist das in Märkten, in denen Facebook nicht mehr viele neue Mitglieder gewinnen kann, weil schon alle da sind, die da sein wollen. Wie viel Wert das Unternehmen auf professionell erstelltes Material legt, zeigten zuletzt die Verträge mit 140 Medienhäusern, die Live-Videos für Facebook produzieren sollen und dafür insgesamt rund 50 Millionen US-Dollar bekommen.

Nun aber befürchtet oder bemerkt Facebook offenbar, dass ein von Nachrichtenangeboten dominierter Newsfeed nicht zu aktiveren Nutzern führt. Das Unternehmen erhofft sich vom geänderten Algorithmus vermutlich, mit Videos, Fotos, Status-Updates, Links und anderen Inhalten von einzelnen Freunden mehr Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dass Medienangebote in der Folge mit Reichweiteneinbußen rechnen müssen, ist Facebook bewusst, wie aus dem Blogpost zur Newsfeed-Änderung hervorgeht. Darin heißt es:

Frei übersetzt: Hängt die Reichweite Ihres Angebots davon ab, dass möglichst viele Menschen auf Ihre Facebook-Seite gehen und dort die verlinkten Inhalte anklicken? Tja, Pech gehabt. Sehen Sie also lieber zu, die Facebook-Nutzer für Ihre Inhalte zu begeistern, damit sie diese teilen, liken oder kommentieren. Nur dann tauchen sie auch künftig weit oben in vielen Newsfeeds auf.

Man kann jetzt darüber diskutieren, ob Facebook mit diesem Vorgehen seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht wird. Immerhin ist es angesichts seiner Nutzerzahlen und zunehmenden Präsenz einer der weltweit wichtigsten Nachrichtenverteiler und damit in der Lage, die Verbreitung von Informationen zum Weltgeschehen global zu beeinflussen.

Facebook will Geld, keine Verantwortung

Aber Facebook hat wenig Interesse, in die Rolle eines Medienhauses gedrängt zu werden. Auch wenn seine Betreiber immer wieder beteuern, eine neutrale Plattform für alle Perspektiven und Standpunkte bieten zu wollen und keine Wohlfühl-Echokammer. Stattdessen benimmt es sich so, wie es ein börsennotiertes Unternehmen eben tun muss, um seine Aktionäre zufriedenzustellen.

Manche Medienhäuser werden zunächst weniger Traffic über Facebook verzeichnen und versuchen, ihre Angebote im Netzwerk anzupassen, sodass sie öfter geteilt und über diesen Umweg in die Newsfeeds gespült werden. Und Facebook wird sich genau ansehen, ob der Umbau zu aktiveren Nutzern führt. Wenn nicht, wird es seinen Algorithmus eben noch einmal ändern. Für eine Verabschiedung vom Leser, wie sie The Verge in die Unterzeile zu seinem Artikel über den neuen Newsfeed geschrieben hat, ist es jedenfalls zu früh: Statt Bye! sollte dort See you! stehen.


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