Das VfGH-Urteil im Wortlaut

  01 Juli 2016    Gelesen: 550
Das VfGH-Urteil im Wortlaut
"Unjuristisch ausgedrückt: Die Stichwahl muss in ganz Österreich zur Gänze wiederholt werden", sagte VfGh-Präsident Holzinger.

Meine sehr geehrten Damen und Herren. Wahlen sind das Fundament unserer Demokratie. Es ist die vornehmste Pflicht des Verfassungsgerichtshofs dieses Fundament funktionstüchtig zu halten. Die Entscheidung, die ich jetzt verkünden werde, macht niemanden zum Verlierer und niemandem zum Gewinner. Sie soll alleine einem Ziel dienen, das Vertrauen in unseren Rechtstaat und in unsere Demokratie zu stärken.

Im Namen der Republik: Der Verfassungsgerichtshof hat über die von Heinz-Christian Strache eingebrachte Anfechtung des zweiten Wahlganges der Bundespräsidentenwahl vom 20. Mai 2016 gemäß Artikel 141 des Bundesverfassungsgesetzes zu Recht erkannt. Der Anfechtung wird stattgegeben. Das Verfahren des zweiten Wahlganges der Bundespräsidentenwahl vom 22. Mai 2016 wird ab der Kundmachung der Bundeswahlbehörde vom 2. Mai 2016 aufgehoben soweit darin die Vorlage eines zweiten Wahlganges angeordnet wird.

Unjuristisch ausgedrückt bedeutet das: Die Stichwahl muss in ganz Österreich zur Gänze wiederholt werden."

"Ich komme jetzt zu den Entscheidungsgründen.

Der erste Themenkomplex, den wir in diesem Verfahren behandeln, betrifft die Verfassungsmäßigkeit der einfach gesetzlichen Regelungen über die Briefwahl. Der VfGH hat in einem Erkenntnis aus dem Jahr 1985 Briefwahlregelungen in einer Kommunalwahlordnung eines österreichischen Bundeslandes wegen Verstoßes gegen die Grundsätze des persönlichen und des öffentlichen Wahlrechts als verfassungswidrig aufgehoben. Angesichts dieses Spannungsverhältnisses der Briefwahl zu den allgemeinen Wahlgrundsätzen wurde im Jahr 2007 für die Stimmabgabe mittels Briefwahl eine besondere verfassungsgesetzliche Grundlage geschaffen.

Basierend darauf, können Wahlberechtige, die voraussichtlich am Wahltag verhindert sein werden, ihre Stimme bei der Wahlbehörde abzugeben, ihr Wahlrecht durch Briefwahl ausüben, wobei die Identität des Antragstellers auszumachen ist und der Wahlberechtigte durch seine Unterschrift an Eidesstatt zu erklären hat, dass die Stimmabgabe persönlich und geheim erfolgt ist.

Der VfGH hegt gegen das System der Briefwahl keine Bedenken…

Der Verfassungsgesetzgeber hat die Breifwahl in Form einer Distanzwahl, nicht als gleichwertige Form der Stimmabgabe zu jener vor der Wahlbehörde, also die konventionelle Urnenwahl, sondern als Ausnahme gesehen, die gewissen Beschränkungen unterliegt. Innerhalb dieses verfassungsrechtlichen vorgegebenen Rahmens steht dem einfachen Gesetzgeber frei, die näheren Bestimmungen über das Wahlverfahren zu treffen.

Dabei kommt dem Gesetzgeber insofern ein Gestaltungsspielraum zu, als er ein System schaffen muss, dass in seiner Gesamtheit insgesamt den von der Verfassung vorgebenen Wahlgrundsätzen ausreichend Rechnung trägt, aber andereseits auch die vom Verfassungsgericht getroffene Grundsatzentscheidung der Ermöglichung von Distanzwahlen nicht durch komplexe Praktiken unmöglich macht...

Der Verfassungsgerichtshof ist dem Anfechtungswerber hinsichtlich seiner Bedenken, dass die einfach gesetzlichen Regelungen über die Briefwahl verfassungswidrig wären, nicht gefolgt."

Quelle: diepresse.com

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